TIERISCHES IN DER ANTHROPOLOGIE UND POETIK
ELIAS CANETTIS
Einleitung
Auf der Pirsch
Von Buschmännern und Springböcken
Der Tierstimmenimitator
Die Verdauung Berlins
Der Gorilla und die Wanze
Eine Sau und ein Rudel Wölfe
Macht der Liebe oder Trieb zur Macht?
Das Lachen der Hyänen
Ein mörderischer Panther
Der Hund seiner Zeit
Anmerkungen
*
In einem Gespräch mit Manfred Durzak im Jahre 19701
erzählt Elias Canetti von dem "stärkste(n) Erlebnis", das er im Wien
der 20er und 30er Jahre "überhaupt je hatte, das stärker als Kraus war,
stärker als seine Vorlesungen, stärker als das Kabuki-Theater": es
handelt sich um eine Schallplatte, die der englische Biologe Julian Huxley herausgegeben hatte, mit der Aufnahme von Tierstimmen.
"Der
eine Teil heißt 'Afrikanische Tiere bei Tag' der andere 'Afrikanische
Tiere bei Nacht'. Die Platte, die 'Afrikanische Tiere bei Nacht' heißt,
schildert von Anfang an rein akustisch einen Löwen, der auf Raub
ausgeht, dann seine Begegnung mit seinem Beutetier, einem Zebra, das er
erbeutet. Man hört also das Pfeifen eines Zebras und dann alle möglichen
Tiere, die hinzukommen, Vögel, Elefanten, dann um die Leiche des Zebras
die Aastiere. Da kommt nun die Stimme eines Cheetah, eines Servals,
eines Schakals, verschiedene Hyänen, wobei die eine Hyäne - sie hat eine
Stimme wie ein Lachen - lacht. Die Platte endet mit dem Lachen eines
Irrsinnigen, das die Stimme dieser Hyäne ist.
Das
hat nicht nur als Ereignis die Form eines Dramas, denn es ist eine
Jagd, die Erlegung eines Tieres, sondern ist auch stimmlich ganz das.
Ich hatte das Gefühl, das ist das größte Dokument, das mir je
untergekommen ist für das, was ich mit einem Drama - das mußssnatürlich übersetzt werden und ist viel komplexer - will"2.
In der Tat ist dies ein Gedanke, der der Erläuterung bedarf.
Der
stufenweisen Vermenschlichung der Hyäne - vom Vergleich: "sie hat eine
Stimme wie ein Lachen", über die Metapher: "die Hyäne ... lacht", bis
zur Identifikation: die Stimme der Hyäne ist das
Lachen eines Irrsinnigen -, korrespondiert andererseits die Rückführung
eines spezifisch Humanen, des Kunstprodukts "Drama", auf einen Vorgang
unter Tieren, die Jagd. Ich denke nun, dass
diese enge Verklammerung des Menschlichen mit dem Tierischen in Canettis
Anschauung nicht nur für seine Dramentheorie von Bedeutung ist, sondern
auf eine Wahrnehmungs- und Darstellungsweise führt, die für das ganz"
Werk Canettis grundlegend ist. Meine These ist, dass der Begriff des "Tierischen", wie Canetti ihn auffasst,
zur Vermittlung geeignet ist zwischen seiner - vor allem in "Masse und
Macht" und in den "Aufzeichnungen" dargelegten - Anthropologie und
seiner Poetik literarischer und autobiographischer "Figuren".
Auf der Pirsch
Was
Ödipus für Freud, für Marxisten der Klassenkampf, für Christen die
Bibel, das ist für Canetti die Jagd: zentrales Paradigma menschlichen
Handelns, Horizont seiner Interpretation. Alle anthropologischen
Grundkategorien: Masse, Meute, Macht, Verwandlung, Überleben, lassen
sich auf die Ursituation des Jagens beziehen, aber auch in den
poetologischen Grundbegriffen Canettis: Maske, Figur, Drama, bleibt
dieser Bezug erkennbar. Canettis Lebenswerk ist darauf gerichtet
nachzuweisen, dass wir noch die Jagdgesellschaft sind, die wir durch Kultur und Zivilisation meinen überwunden zu haben; dass wir alle "auf einem Haufen von Toten sitzen, Menschen und Tieren, dass unser Selbstgefühl seine eigentliche Nahrung aus der Summe derer bezieht, die wir überlebt haben", dass
in uns "das Massengrab der Geschöpfe" liegt. Dies ist "die große und
unlösbare Zerklüftung der, modernen Menschen", nämlich: zu wissen, dass das Jenseits "in uns... gefangen ist, dass keine Religion, die das Glück "auf eine Ferne" bezieht, der Einsicht standzuhalten vermag, dass es unmöglich ist, "nicht vom Tode der anderen Geschöpfe zu leben" (PdM 183).
Gleichwohl
ist die Suche nach dem"Jäger in uns" in Canettis Werk auch eine nach
Formen, in denen Massen- und Machttrieb ihre"Stachels" (MM 543) beraubt
werden, in denen sie vor allem nicht mehr töten müssen. Nicht um
"Sublimierung" geht es dabei, kulturelle Verfeinerung und Auflösung des
Triebhaften, aber doch um eine Umlenkung des Überlebenswunsches ins
Geistige, die schließlich zu einer Umkehrung führen soll, der Rettung
des Lebendigen im Wort.
Das
ist der Sinn von Canettis "Glauben an literarische Unsterblichkeit" (MM
318). Der Dichter hat nicht nur "verschmäht, zu töten", er "hat alle,
die mit (ihm) waren, mitgenommen in jene Unsterblichkeit, in der alles
wirksam wird, das geringste wie das größte" (MM 319). Der Dichter rettet
alle, mit denen er gelebt hat, indem er sich, noch als Toter, zur
Nahrung der Lebenden gibt. In literarischen Werken "bieten sich die
Toten als edelste Speise dar. Ihre Unsterblichkeit kommt allen Lebenden
zugute: in dieser Umkehrung
des Totenopfers fahren alle wohl. Das Überleben hat seinen Stachel
verloren, und das Reich der Feindschaft ist zuende" (MM 319).
Bevor der Dichter jedoch sich zur
Speise gibt, ist er selbst erst einmal Jäger: auf der Jagd nach
Lebenden, allerdings nicht, um sie zu vernichten, auch nicht, um sie
bloß zu sammeln (GdW 287), sondern um sie lebend aufzunehmen und in
seinem Werk lebendig zu erhalten.
Es
ist der in der Stadt herumstreunende Beobachter und Lauscher, als der
Canetti sich immer wieder dargestellt hat, auf der Suche nach Gestalten,
die er als individuelle Geschöpfe wahrnimmt, lebendige vielfältige
Wesen von faszinierender Eigenart; und da passiert es in der Wahrnehmung
ganz von selbst, dass sich die Menschen, denen
er begegnet, in Tiere verwandeln. "Wenn ich in einer Stadt frei
umhergehe", schildert Canetti in dem erwähnten Gespräch mit Durzak, "so
wie ich damals in Wien herumging, also ohne Absicht, hatte ich
eigentlich den Eindruck von lauter Tierstimmen, aber von Tierarten, die
man nicht kennt. . ."3.
Zweck-
und Absichtslosigkeit ist die Bedingung für ein freies Aufnehmen der
Gestalten, für die Aufmerksamkeit auf die Fremdartigkeit, den
spezifischen Reiz einzelner Menschen; jede innere Regung des Hörenden
würde ihn vernichten, würde zu ungewünschten Vermischungen führen, die Reinheit im Umrißssder
Gestalt, in der Prägnanz der Stimme beeinträchtigen: auch dies hat der
Dichter mit dem Jäger gemein, der "durch keine Bewegung seine Gier"
verraten darf. Die Schule des Lauschens ist eine der Zurückhaltung, des
Verschwindens des Jäger vor seiner Beute. "Diese Art des Hörens war
nicht möglich ohne Verzicht auf eigene Regungen. Sobald man in Gang
gebracht hatte, was sich hören ließ, trat man zurück und nahm nur noch
auf und durfte sich darin durch kein Urteil, keine Empörung, kein
Entzücken hindern lassen. Wichtig daran war die unverfälschte, reine Gestalt, dass sich keine dieser akustischen Masken (wie ich sie später nannte) mit der anderen vermischte" (F 208).
Ansprüche
der anderen, aber auch eigene an sie, Empfindungen, die nach Kontakt
und Vermischung drängen, müssen niedergehalten werden. Aufschlussreich
für diese Abwehrhaltung und den Schutz, den sie gewährt, ist eine Notiz
aus dem Jahre 1965. Der Dichter sitzt an einem Tisch in einem kleinen
Raum und fühlt sich bedrängt von mehreren, sehr jungen Leuten.
"Ich
halte ihnen bloß stand, weil ich sie belausche. Sie ahnen nicht, das es
Vereinzeltes zu belauschen gibt, sie fühlen sich hier als ein
Allgemeines. Ihre Mädchen sind ihnen ergeben. Gefällt mir etwa eine von
ihnen? Ich weiß es nicht, ich weiß nichts. Ich erlebe, was ich als Meute
erdacht habe" (PdM 239).
Der
Lauscher weiß nichts und will nichts wissen, und er will nicht
reagieren, weder auf eigene Gefühle noch auf die Ansprüche anderer, er
will erfahren, aber ohne zu fragen und ohne zu antworten; belohnt wird
er damit, dass er das erlebt was er "erdacht" hat: es sind Tiere. Er belauscht Vereinzeltes und erfährt: die Meute, sein "Allgemeines".
Der
Verwandlung des Menschen Elias Canetti in den lauschenden Jäger
korrespondiert eine Verwandlung der Menschen seiner Umgebung in
"akustische Masken", die er erbeutet.
"Wenn
ich in ein Nachtcafé kam, wo die Gelegenheit zu hören eine günstige
war, blieb ich lang, bis zur Sperrstunde um vier Uhr früh, und gab mich
dem Wechsel der eintretenden, fortgehenden, wiederkehrenden Figuren hin.
Ich machte mir den Spaß, die Augen zu schließen, als ob ich halb
schliefe, oder mich zur Wand zu kehren und nur noch zu hören. Ich lernte
es, die Leute nach dem Gehör auseinanderzuhalten. Dass jemand das Lokal verließ, sah ich nicht, aber ich vermisste die Stimme, und sobald ich sie wiederhörte, wusste ich, er ist zurückgekommen. Wenn man die Wiederholung nicht scheute, wenn man sie voll und ohne Missachtung
aufnahm, erkannte man bald einen Rhythmus des Redens und Widerredens;
aus dem Hin und Her, aus der Bewegung akustischer Masken bildeten sich
Szenen..." (F 336).
Die Stimmen, aus denen der Lauscher die "akustische.nMasken" abstrahiert, bleiben die Tierstimmen, die er im Gedränge vernommen hat: er hört ja nicht auf das, was sie sagen, sondern auf ihre Ausdrucksweise
und das tierisch Individuelle an ihr. Eine ausführliche Schilderung
eines solchen Wahrehmungsvorganges gibt Canetti in dem erwähnten
Gespräch mit Durzak.
"Gehen Sie in
ein Volkslokal,. . ., setzen Sie sich an irgend einen Tisch und machen
Sie die Bekanntschaft eines Ihnen wildfremden Menschen ... Sobald er ...
ins Sprechen gekommen ist,. . ., halten Sie einmal konsequent den Mund
und hören Sie ihn sich einige Minuten hindurch genau an. Unternehmen Sie keinerlei Versuch, ihn zu verstehen,
forschen Sie nicht nach dem, was er meint, fühlen Sie sich nicht in ihn
ein - achten Sie ganz einfach auf das Äußere seiner Worte ... Da werden
Sie nun finden, dass Ihr neuer Bekannter eine
ganz eigentümliche Art des Sprechens an sich hat . . ., seine
Sprechweise ist einmalig und unverwechselbar. Sie hat ihre eigene
Tonhöhe und Geschwindigkeit, sie hat ihren eigenen Rhythmus ...
Überhaupt besteht seine Sprache nur aus fünfhundert Worten ... Sie
können ihn, wenn sie gut zugehört haben, das nächste Mal an seiner
Sprache erkennen, ohne ihn zu sehen. Er ist im
Sprechen so sehr Gestalt geworden, nach allen Seiten hin deutlich
abgegrenzt, von allen übrigen Menschen verschieden, wie etwa in seiner
Physiognomie, die ja auch einmalig ist. Diese sprachliche Gestalt eines
Menschen ... nenne ich seine akustische Maske"' (Hervorhebung H.T.).
Die physiognomische Reduktion eines Menschen auf die Gestalt seiner spezifischen Redeweise ist eine Verwandlung
dieses Menschen in ein Tier, das Tier, das er ist, einziges Exemplar
seiner Gattung. Der physiognomische Jäger erbeutet animalische
Individualitäten.
Den
Erlebnisursprung seines Begriffs der "akustischen Maske" schildert
Canetti in der "Fackel im Ohr," als eine doppelte Beobachtung, einmal an
Schwalben, dann an einem Hemdenverkäufer, der seine Waren anpreist:
"Ein
Bedürfnis nach solchen Masken, ihre Selbständigkeit sozusagen ,empfand
ich, glaube ich, in St. Agatha zum erstenmal, im Sommer 1926, als ich
den Schwalben Stunden um Stunden zusah, ihrer raschen, leichten
Bewegung, und die immer gleichen Laut hörte, die sie dabei von sich
gaben. Diese Laute ermüdeten mich trotz ihrer Wiederholung nie, so wenig
wie die wunderbaren Regungen ihres Flugs. Vielleicht hätte ich sie
später vergessen, aber dann kam die Kirchweih mit dem Hemdenverkäufer
unter meinem Fenster und sein immergleicher Ausruf: Heut is mir alles eins, ob i a Geld hab oder keins!' (... ) Eine
Wiederholung schien wie die andere, alles war Wiederholung, die Laute,
von denen man nicht loskam, bestanden aus Wiederholung, und obwohl es
eine falsche Maske war, die der Hemdenverkäufer sich aufsetzte, . . .,
machte mir doch sein konsequenter Gebrauch dieser Maske, in Verbindung
mit den inmergleichen, aber natürlichen Lauten der Schwalben einen
solchen Eindruck, dass die Suche nach
Redeweisen später, sobald ich wieder in Wien war, zu rastlosen
nächtlichen Gängen durch die Straßen und Lokale der Leopoldstadt führte"
(F 208f.).
Dass
es gleichgültig ist, ob die "Maske" eine falsche ist, ob der
"Hemdenverkäufer" in "Wirklichkeit" ein "Jus-Student" ist oder nicht,
weist schon daraufhin, dass etwas spezifisch
Menschliches, die Möglichkeit der Täuschung nämlich, vom Masken-Jäger
nicht erfahren werden kann. Was zählt, ist die Gestalt der
Individualität, nicht Absichten und Rollenunterschiede.
"Physiognomische" Wahrnehmung bedeutet die prinzipielle Annahme einer
natürlichen Verbindung von Innerem und Äußerem, Brüche zwischen dem, was
einer denkt, und dem, was er spricht und tut, kommen so nicht in den
Blick; wie auch bei einem Tier nicht interessiert, ob es jenseits seines
Verhaltens noch etwas anderes wollen, jenseits seiner Gestalt noch
anderes sein könnte.
Interessant ist
nun die Insistenz auf den Begriff der Wiederholung als
Identifikationsmerkmal der "akustischen Maske". Canettis
Beobachtungsverfahren erinnert so zunächst an das eines Ethnologen, der
eine fremde Sprache erlernen will; auch dieser muss
auf diejenigen Elemente dessen, was er hört, eine besondere
Aufmerksamkeit wenden, die sich ähnlich anhören: sie könnten Gleiches
bedeuten oder zumindest gleiche Funktionen im Satzbau erfüllen; es
könnte sich also um dieselben Wörter handeln. Doch dies ist eine
Täuschung: Der Dichter ist gerade nicht an der Sprache interessiert,
nicht an den Wiederholungen, die die "langue" strukturieren, sondern
ausschließlich an der "parole"' dem Sprechen. Die Wiederholungen
interessieren ihn nicht als konstitutive Elemente eines Zeichensystems,
sondern als "natürliche" Kennzeichen von Individuen. Diese will er dem
"System" ja gerade abjagen! Individuen in ihrer Einzigartigkeit
aufzunehmen - und Menschenwahrnehmung ist für den Jäger Canetti immer
schon ein "Aufnehmen", ein Einverleiben anderer in die eigene
Individualität (vgl. GZ 211) - sie als scharf begrenzte Gestalten dem Chaos des Stimmengewirrs und
dem Zugriff von Systemen und Konventionen zu entreißen: darauf zielt
der Lauscher, der nicht Sprachen, sondern "Menschen erlernen" (F 292)
will. "Soziolinguisitik" ist dieses Verfahren nicht, und auch nicht
"Psycholingiustik"; denn diese Wissenschaften sind schon als solche dem
Allgemeinen verpflichtet und interessieren sich für die gesetzmäßigen,
überindividuellen Wiederholungen und nicht für das Individuum als
solches. Canettis Ohr versucht, das aufzuspüren, was noch nicht
kulturell "codiert" ist. Die unverwechselbare Gestalt eines einzelnen,
seine "Physiognomie", ist gerade das, was er mit anderen seiner Kultur,
Subkultur oder Gesellschaft nicht teilt, ja streng genommen nicht einmal das, was ihn als der Gattung "Mensch" zugehörig kennzeichnet. Wissenschaftlich ist sie nicht erfassbar.
Das
(hypothetische) Gegenteil einer individuellen Gestalt wäre ein Mensch,
der nur noch aus "Strukturen" bestünde - , an ihm gäbe es nichts für den
Dichter Canetti Interessantes mehr; er hätte alles "Tierische" völlig
aufgegeben.
"Du bestehst nur noch
aus Strukturen. Bist du geometrisch geboren, oder hat dich die Zeit
gepackt und in ihre rettungslos geraden Formen gezwungen? Kennst du das
große Geheimnis nicht mehr? Das Geheimnis des weiteren Weges?" (PdM 206) lautet ein satirischer Aphorismus Canettis aus dem Jahre 1960.
Doch was gibt es zu hören jenseits sprachlicher "Strukturen", jenseits von konventionellen
Systemen, seien sie verbal oder nonverbal? Ist der "weiteste Weg", der
zu einem Ort "viel tiefer als die Mütter" (B 365) führen müsste,
nicht endgültig verbaut? Zeigen die Fortschritte in den semiotischen
Disziplinen, seien es Psychoanalyse oder Ethnologie und alle
"Kommunikationswissenschaften", nicht, dass es jenseits der "Codes" immer noch andere kulturelle Systeme, immer nur andere Codes zu entdecken gibt, dass es jenseits kultureller "Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinns ewige Unterhaltung" (Goethe) für den Menschen keine irgendwie auszumachende erste Natur gibt? Canettis gesamtes Werk ist von dem Impuls motiviert, dass eine solche Perspektive auf das Menschliche, die der Rettung individueller Gestalten vor den überindividuellen Gestaltungen,
dienen soll, möglich und sinnvoll ist: sein Kampf gegen die Anerkennung
des Todes ist gleichzeitig ein Kampf gegen die systematische
Vereinnahmung des Individuellen und, damit logisch verbunden, gegen die Arbitrarität der Zeichen.
Zu Canettis "physiognomischer Wahrnehmung"
gehört sein Glaube an die Integrität der Worte und Gedanken, sein
Widerstand gegen die "Zerbrecher der Sprache" (PdM 293). Zwar: mehr als
die Worte bedeuten ihm die Mythen, da sie, bei aller Lust an Verwandlungen, die "Gestalten" unangetastet lassen, das unterscheide ihn, notiert er 1947, etwa von Joyce.
"Aber ich habe auch eine andere Art Respekt vor Worten. Ihre Integrität ist mir beinahe heilig. Es
widerstrebt mir sie zu zerschneiden ... Das Unheimliche, das in den
Worten enthalten ist, ihr Herz, will ich ihnen nicht herausreißen wie
ein mexikanischer Opferpriester; diese blutigen Manieren sind mir verhasst.
Es soll sich nur an Gestalten darstellen, immer nur auf sie bezogen,
nie auf Worte unter sich. Worte allein, ohne den Mund, der sie
ausgesprochen hat, haben für mich etwas Schwindelhaftes . . ." (PdM
104).
Bezeichnend für Canettis Affekt gegen analytische Destruktionen ist es, wie Canetti hier Worte metaphorisch
in Lebewesen verwandelt, die es vor ihrer Ertötung zu schützen gilt, um
sie dann mit den "realen" Lebewesen zu verbinden, denen sie zugehören,
den sprechenden "Gestalten".
Canetti
glaubt an letzte Elemente der Sprache, die nicht mehr gespalten werden
dürfen; ein solches letztes Element, das in der Verbindung zum Sprecher
verbleiben muss, ist ihm der "Ruf".
"Als Dichter lebe ich noch in der Zeit vor der Schrift, in der Zeit der Rufe' (PdM 104).
Gerald
Stieg hat die Autobiographie Canettis mit der im Jahre 1979
erschienenen Lebensbeschreibung des Biochemikers Erwin Chargaff "Das
Feuer des Heraklit" verglichen; von Chargaff stammt der Satz:
"Zwei verhängnisvolle
wissenschaftliche Entdeckungen haben mein Leben gezeichnet: erstens die
Spaltung des Atoms, zweitens die Aufklärung der Chemie der Vererbung.
In beiden Fällen geht es um Misshandlung eines Kerns: des Atomkerns, des Zellkerns"9
.
Die
"Gestalt", lebendige, wenn auch notwendig einseitige Figur, ist für
Canettis physiognomische Wahrnehmung wie für seine Poetik ein solcher
letzter Kern, dessen Zerstörung ein Einverständnis mit dem Tod bedeuten
würde. Sein Kampf gegen den "Balken" zwischen Signifikant und Signifikat
(de Saussure), gegen die Vorherrschaft des Signifikanten (Lacan) gar,
den Canetti führt, drückt sich besonders in seiner "Namensgläubigkeit"
(gZ 135) aus, seiner affektiven Auffassung, dass Name und Gestalt einer Person oder literarischen Figur untrennbar miteinander verbunden seien.
Nicht genug wundern kann er sich darüber, dass Karl Kraus einfach nur Karl Kraus heißt (F 65), und der Name "Veza" nimmt ihn gleich für seine spätere Frau ein (F
67). Die Zerlegung und Erklärung von Namen fürchtet er mehr als Mord (PdM
173). Zu Canettis Affekt gegen zergliederndes, tötendes Analysieren gehört auch
die
"Angst vor der Aristotelisierung meiner Gedanke, vor Einteilungen,
Definitionen und ähnlichen leeren Spielereien" (PdM 172): auch Gedanken
sind solche letzten, lebendigen Einheiten mit einem Recht auf den Schutz
ihrer Integrität. Die Bedeutungen der Worte und Sätze, sofern sie nicht
unmittelbar mit der Individualität des Sprechenden verbunden
werden können, verwirren den physiognomischen Gestaltenjäger; von der
Arbitrarität des Zeichens will er nichts wissen, ebensowenig wie von der
Selbständigkeit der Schrift. Konsequenterweise imaginiert er sich einen
Zustand, in dem er dadurch zu Erfahrungen und Erkenntnissen gelangen
würde, dass er nichts mehr verstünde.
In den "Stimmen von Marrakesch" findet sich der Satz:
"Ich träume von einem Mann, der die Sprachen der Erde verlernt, bis er in keinem Lande mehr versteht, was gesagt wird" (S 23).
Der Erzähler ersucht nicht, eine der Sprachen des bereisten Landes zu erlernen; er will
"nichts
von der Kraft der fremdartigen Rufe verlieren. Ich wollte von den
Lauten so betroffen werden, wie es an ihnen selber liegt, und nichts
durch unzulängliches und künstliches Wissen abschwächen" (S 23).
Das,
was der Reisende wissen könnte, beträfe die Bedeutung der Wörter; er
will jedoch nur Rufe und Laute hören, sie sind die Artikulationen des Lebens, nicht der Kultur. Blinde Bettler, die beständig 'Allah, Allah' rufen - ein Wort, um
das der Reisende nicht herumkam -, bezeichnet er als die "Heiligen der
Wiederholung" (S 26); und am Ende begegnet ihm ein Bündel an der Grenze
des Lebendigen, das nur noch einen einzigen Laut ausstößt, "ä-ä-ä-ä-ä":
"Aber
es lebte, und mit einem Fleiß und einer Beharrlichkeit ohnegleichen
sagte es seinen einzigen Laut, sagte ihn Stunden und Stunden, bis er auf
dem ganzen weiten Platz der einzige Laut geworden war, der alle anderen
Laute überlebte" (S 122).
Dies ist nun das zweite Moment in der akustischen Welterfahrung Canettis: Laute und Rufe faszinieren ihn, weil sie Leben
anzeigen. Eine ähnliche Regung wie beim Anblick und Hören des Krüppels
ergreift den Erzähler, als er bei einem halbtoten Esel bemerkt, dass sich dessen Lust noch regt und ragt (S 106).
Es ist wiederum der umgekehrte "Jäger", der hier zum Vorschein kommt: einerseits muss er sein Objekt als eindeutig begrenztes, individuelles Wesen ausmachen; das zweite, das ihn interessiert, ist, dass es sich um ein 1ebendes Wesen
handelt. Im moralischen, zwischenmenschlichen Bereich bedeutet diese
Haltung, die das Leben schon ehrt um des Lebens willen, das Gebot
völliger Toleranz bis zur Selbstaufgabe, solange nicht der Tod in
irgendeiner Weise akzeptiert wird.
Nachdem ihm eine Freundin gestorben ist, notiert Canetti:
"Wäre es möglich, dass
Ihr Tod mich von Eifersucht kuriert hat? Ich bin gegen die Menschen,
die ich liebe, toleranter geworden. Ich wache weniger über sie, ich
gönne ihnen ihre Freiheit. Ich denke nur: tut dies, tut jenes, tut was
euch Freude macht, wenn ihr nur lebt, tut, wenn es sein muss, alles Mögliche gegen mich, kränkt mich, betrügt mich, schiebt mich beiseite, hasst mich , - ich erwarte nichts, ich will nichts, nur das Eine: dass ihr 1ebt " (PdM 158).
Auch hier, wo es um menschliche Handlungen geht und nicht um wahrgenommene Gestalten, zeigt es sich, dass der Beurteiler sich ebenso außerhalb seines Lebens stellen muss wie der Beobachter, dass er von sich absehen muss, will er die Gleich-Gültigkeit allen Lebens angesichts des allen gemeinsamen Feindes: des Todes, erfahren.
Natürlich
ist der physiognomische Blick des "Jägers", der von der Vielfalt der
Geschöpfe und ihrer Lebendigkeit fasziniert ist, den nichts mehr
interessiert, als Leben zu bewahren, unhistorisch und undialektisch; ich
möchte die Perspektie Canettis "prähistorisch" nennen. An der
Geschichte stört ihn die Parteinahme fürs Geschehene, für diejenige
unter den vielen Möglichkeiten, die überlebt hat (PdM 138); außerdem sei
in ihr zuwenig von den Tieren die Rede (PdM 53). Eine
Auseinandersetzung mit Dialektik, sei sie historisch-materialistisch
oder hermeneutisch, findet nicht statt; zu offensichtlich sind ihm wohl
die Rechtfertigungen des Todes, die sie methodisch impliziert wie alle
religiösen und philosophischen Systeme. Da alle Sinn-Systeme letztlich
den Tod legitimieren, lehnt Canetti sie alle ab: in dieser Hinsicht ist
ihm alles gleich-ungültig. Das Leben ist sein Grundwert, gerade weil es
sinn-los ist, weil es keine transzendente Bestimmung zulässt, nur auf sich selbst bezogen werden
kann. "Deutung" des an Menschen und ihren Verhaltensweisen
Wahrgenommenen heißt dann konsequenterweise für Canetti nicht die
Einrückung in einen wie immer gearteten Überlieferungsstrang, aber auch
nicht der Protest dagegen im Namen eines bisher noch nicht genügend zur
Geltung gekommenen Wertes - es sei denn dem des Lebens selbst -, sondern
Rückführung auf die kollektiven Erfahrungen der "Jagdgesellschaft":
Erkundung von Lebensmöglichkeiten, die scheinbar im Laufe der Kultur-
und Zivilisationsgeschichte aufgegeben worden sind, und Aufdeckung von
Machtverhältnissen und Massensehnsüchten dort, wo sie sich hinter Kultur
und Zivilisation verstecken. Canetti forscht nach diesen Spuren in der
Geschichte aller Kulturen (F 238), vor allem
aber in den Mythen, die von dem handeln, was ihn am meisten fasziniert,
weil es am stärksten dem Tod widerspricht: der Verwandlung.
Von Buschmännern und Springböcken
Canetti hält die Fähigkeit zur Verwandlung für das zentrale Anthropologicum,
für das, was Menschen von Tieren wesentlich unterscheidet, wichtiger
noch als Arbeit oder Sprache. Der Bezug zur Jagdgesellsellhaft ist
offenkundig: hier lernte der Mensch, sich in die Tiere seiner Umgebung
einzufühlen. Eine Verwandlung zum Zwecke der Täuschung ist allerdings
schon eine durch den Trieb nach Macht pervertierte Verwandlung; Canetti
nennt diese "dem Machthaber bis zum heutigen Tage geläufige Form
"Verstellung": "die freundliche Gestalt, in der sich eine feindliche
verbirgt" (MM 425 ff.). Nicht um ihren Einsatz zur Machtausübung geht es
Canetti, sondern um eine Rettung der Verwandlungsfähigkeit
als eines Grundvorgangs der Verständigung; denn "nur durch Verwandlung
... wäre es möglich zu fühlen, was ein Mensch hinter seinen Worten ist,
der wirkliche Bestand dessen, was an Lebendem da ist, wäre auf keine
andere Weise zu erfassen", wie Canetti in seiner Rede "Der Beruf des
Dichters" ausführt, wo er den Dichter als den "Hüter der Verwandlungen"
bezeichnet (GdW 285 f.). Es geht also auch hier um den Bestand des
Lebendigen und dessen verstehende Bewahrung.
Die
ersten Gegenstände der Verwandlung waren Tiere. in der ungeheuer großen
Zeitspanne, während der er (der Mensch) in kleinen Gruppen lebte, hat
er sich durch Verwandlung alle Tiere, die er kannte, gewissermaßen
einverleibt. An dieser Ausbildung der Verwandlung ist er erst recht zum
Menschen geworden, sie war seine eigentümliche Begabung und Lust" (MM
120 f.).
An diesem anthropologischen Grundbegriff Canettis lässt sich erweisen, dass der Vorwurf gegen ihn, dass er die Grenze zwischen dem Humanen und dem Animalischen nicht deutlich genug gezogen hätte", nicht trifft: er hat diese Grenze genau bezeichnet; wenn er dem Menschen auch nicht mehr zugesteht, als dass er "die Summe aller Tiere" sei, "in die er sich im Laufe seiner Geschichte verwandelt hat"14.
Die
Fähigkeit zur Verwandlung sieht Canetti übrigens nicht nur durch
Arbeitsteilung und zunehmende Spezialisierung bedroht (GdW285 f.),
sondern ebenso durch den Verlust der Tierwelt selbst; er hält "das
allmähliche Verschwinden der Tiere ... für die vielleicht gefährlichste
Verarmung des Menschen"15.
Die
eindrucksvollste Bestätigung für seine Auffassung von der
Verwandlungsfähigkeit des Menschen findet Canetti in einem Werk über
Buschmann-Folklore, das er "für das kostbarste Dokument der frühen
Menschheit" (MM 385) hält. Gegen Märchen und Mythen könne man ja den
Einwand erheben, dass sie erdichtet seien; hier
jedoch "erfahren wir, wie einem Buschmann in seinem wirklichen Leben
zumute ist, wenn er an einen Strauß oder einen Springbock in der Ferne
denkt; was ihm dabei geschieht; was das überhaupt bedeutet, an ein Geschöpf zu denken, das nicht er selber ist" (MM 388). Canetti zählt auf:
"…
3. Ein Strauß kratzt sich hinten im Nacken mit dem Fuß, wo ihn eine
Laus beißt. Der Buschmann spürt dieselbe Stelle im eigenen Nacken, da,
wo der Strauß sich kratzt. 4. Ein Mann fühlt das Rascheln der
Springböcke im Gebüsch in seinen eigenen Füßen. Den schwarzen Streifen
des Springbocks, von der Stirn bis zur Nase herunter, fühlt er auf
seinem Gesicht. Er spürt an den eigenen Augen die schwarzen Zeichen auf
den Augen des Springbocks. Das schwarze Haar an den Flanken des Tieres
spürt er an seinen Rippen. 5. Ein Buschmann fühlt Blut an den Waden und
im Rücken. Es ist das Blut des zu erregenden Springbocks, den er am
Rücken tragen wird. Da spürt er auch das Haar des Tieres. Man spürt im
Kopf, wo man die Hörner des Springbocks abschlagen wird. Man spürt das
Blut unter den Kniehöhlen, wohin es vom erlegten Tiere, das man trägt,
herunterzutropfen pflegt" (MM 388 f.).
Canetti interpretiert diese Empfindungen des Buschmanns so, dass sie zusammen
"seine ganze Beziehung zum Tier, den vollständigen Prozeß der Jagd" enthalten,
"vom Rascheln bis zu Blut" (MM 391). "Verwandlung" bedeutet für Canetti sehr
viel
mehr als "Einfühlung" im hermeneutischen oder "Empathie" im
psychologischen Sinn. (vgl. GdW 286), hat aber von beiden etwas. Die
Buschmänner erleben in dieser Darstellung noch keine vollständige,
sondern "Ansätze" zur Verwandlung (MM 388), Vorgefühle; während sie
ihren Körper dem des Tieres gleichsetzen, bleiben sie sie selbst. In
Canettis Vorstellung kann der Prozess
weitergehen: von der Gleichstellung über die "metaphorische"
Gleichsetzung bis zur völlige Identifikation (s.o.). "Es ist ein
geheimnisvoller, in seiner Natur noch kaum untersuchter Prozess
und doch ist es der einzige wahre Zugang zum anderen Menschen" (GdW
286) und einer, der"prähistorisch" ursprünglich zuerst an Tieren erlernt
wurde. Die Verwandlung ist die "älteste, vorwissenschaftliche Weise"
(GdW 287) von Erfahrung und Erkenntnis.
Canettis
wesentliche Quellen für seinen Glauben an die Verwandlungsmöglichkeiten
des Menschen sind jedoch nicht ethnologische Berichte, sondern Mythen.
Am wichtigsten ist ihm der Gilgamesch-Mythos Mesopotamiens, dessen Epos
beginnt "mit der Verwandlung des unter den Tieren der Wildnis lebenden
Naturmenschen Enkidu in einen Stadt- und Kulturmenschen" (GdW 284, vgl. F
47 ff.); außerdem nennt Canetti die Metamorphosen des Ovid und Odysseus
(GdW 284). Mir scheint, dass
die"Verwandlungen" Canettis vor allem die des Lesers meinen, imaginäre
Lektüreerlebnisse, die Canetti überträgt auf das Erlebnis lebendiger
Gestalten. Dem Dichter gibt er ja vor allem die Aufgabe, "das literarische
Erbe der Menschheit" (GdW 283) zu bewahren, an dem er seine eigene
Verwandlungsfähigkeit geschult hat; die gibt er dann weiter, indem er in
seinen Werken neue imaginäre Verwandlungsangebote macht. Diese sind dann allerdings auch sozial wichtig: Die Fähigkeit zur Verwandlung soll "die Zugänge zwischen den
Menschen offenhalten" (GdW 286). Lesen ist ein Einüben dieser
universellen Metamorphose als eines offenen Verstehensprozesses.
Aufschlussreich
für die Art von Canettis Mythenlektüre ist eine methodische Bemerkung,
die er in "Masse und Macht" der zitierten Zusammenfassung seiner
Leseergebnisse aus dem Werk über die Buschmänner voranstellt:
"Wenn man den Zeichen ihren Wert für eine Untersuchung der Verwandlung belassen will, muss man sich vor allem davor hüten, etwas Fremdes in die Welt des Buschmanns hineinzutragen. Man muss die Zeichen so einfach und konkret belassen, wie sie wirklich sind" (MM 388).
Woher weiß der Leser Canetti, dass die Zeichen einfach und konkret sind? Doch nur daher, dass er sie so auffasst,
herausgelöst aus historischen und kulturellen Bezügen, abstrahiert von
der "Lebenswelt" der Eingeborenen, destilliert zu einem Dokument für
eine allgemeinmenschliche Fähigkeit, eine angenommene anthropologische
Grundeigenschaft: die Verwandlungsfähigkeit.
Um diese geht es allerdings, und zwar wesentlich dem Dichter Canetti, der er auch als Anthropologe bleibt, wenn er das zu erkennen meint, was er selbst erzeugt. Wie
er in den ihn bedrängenden jungen Leuten im Café die "Meute"
wiederfindet, die er erdacht hat (PdM 239), so findet er in Mythen,
Märchen, Dichtungen und Berichten das, was er in seinem Kampf
gegen die Anerkennung des Todes braucht: Verwandlungsangebote. Die
Verwandlung beseitigt den Tod nicht - sie ist keine Seelenwanderung -,
aber sie nimmt ihm dadurch seinen Stachel, dass
sie auch die Toten in dem, der sich verwandelt, bereithält und
verlebendigen kann. Nur auf diese magisch-mythologische Weise kann die
Schuld des Überlebenden, die schon darin besteht, dass er
überlebt, abgetragen werden; nur durch Verwandlung kann das
Unterworfene in sein Recht gesetzt werden. "Was er vergewaltigt hat,
enthält er alles in sich" (PdM 55). Es gibt nichts, was Zivilisation und
Kultur endgültig hinter sich gelassen hätten; alles ist wieder und
zugleich möglich. Ein wenig selbstkritisch notiert Canetti 1943:
"Die
Verwandlungslehre verspricht ein Allheilmittel zu werden, bevor sie
noch ganz durchgedacht ist. Sie ist etwas wie eine Seelenwanderungslehre
oder ein Darwinismus, aber ohne im engeren Sinn religiöse oder streng
naturwissenschaftliche Wendung, auf Psychologie und Soziologie bezogen,
so dass beide überhaupt eines werden, und
dramatisch gesteigert, indem alles nebeneinander und zugleich möglich
wird, was sich dort auf Generationen des Lebens oder gar auf geologische
Perioden verteilt" (PdM 40 f.).
Das klingt fast postmodern15a.
In der Ablehnung von Geschichtsphilosophie gibt es sicher einige
Berührungspunkte; doch möchte ich, wie bemerkt, Canettis Methode lieber
"prähistorisch" nennen, wegen des ständig durchscheinenden Bezugs zu
einer mythischen Jagdgesellschaft als eines allgegenwärtigen
Untergrundes und anthropologischer Konstante im diachronen und
synchronen Kulturvergleich. Seelenwanderungslehre und Darwinismus werden
von Canetti später entschiedener abgelehnt; die eine wegen des
Ausweichens vor dem Problem des Todes, die andere wegen der
Legitimierung des Anspruchs des Menschen auf die Macht über die Erde
(PdM 54). Die Abstammungslehre nennt er "dumpf und kleinlich", und ihre
wissenschaftliche Nützlichkeit zweifelt er an: "Man hätte umfassendere
Entdeckungen gemacht, wenn man von der weitherzigeren Anschauung
ausgegangen wäre, dass jedes Tier sich unter Umständen in jedes andere verwandelt" (PdM 55), d.h. auch, wenn jedes Tier als ein potentieller Mensch angesehen worden wäre.
Der Tierstimmenimitator
Dies
sind nun die beiden Pole der Anthropologie Canettis: seine Auffassung
von dem Menschen als der "Summe aller Tiere" und seinen potentiell
unbegrenzten Verwandlungsmöglichkeiten in die
lebendigen Bestandteile seiner selbst steht eine Wahrnehmungsweise
gegenüber, die auf das unverwechselbar Individuelle, das logisch nicht
erschließbare Einzigartige der Geschöpfe zielt, sowie ihre pure
Identifizierbarkeit als lebende Individuen. Der Mensch ist potentiell
unendlich wandelbar, aktuell aber immer schon begrenzt. Einen Hinweis
auf die Vermittlung dieser beiden Pole liefert ein weiterer Aphorismus
aus den "Aufzeichnungen":
"Man
möchte jeden Menschen in seine Tiere auseinandernehmen und sich mit
diesen dann gründlich und begütigend ins Einvernehmen setzen" (PdM 35).
Abgesehen
von der Annahme einer größeren Zugänglichkeit der "tierischen" Seiten
eines Menschen gegenüber seinem spezifisch Humanen - es wird impliziert,
dass es da etwas gebe, mit dem es sich nicht
so gut auskommen ließe -, wird hier eine Verfahrensweise angedeutet, die
für Canettis Poetik bedeutsam ist: die "Tiere", in die ein einzelner
Mensch zerlegt werden kann, entsprechen seinem Grundbegriff der"Figur".
Alle Verwandlungen, die ein Mensch durchlebt hat, hinterlassen in seiner
Erinnerung Spuren als Figuren, verfügbare Muster des Verhaltens, der
Selbstdarstellung und der poetischen
Gestaltung. Canetti unterscheidet "Masken" und "Figuren" folgendermaßen:
"Masken" sind das jeweilige Endprodukt einer Verwandlung, starr und
geheimnisvoll; gewinnt der einzelne ein lebendiges Verhältnis zu ihr,
bricht er ihren Bann, so wird aus der Maske eine Figur. "Man kann sich
richtig zu ihr benehmen, sobald man ein Verhältnis zu ihr hat" (MM 432).
Man
kann sich also mit ihr "gründlich und begütigend ins Einvernehmen
setzen" (s.o.), wie mit den "Tieren im Menschen". In den poetischen
Werken Canettis werden also nicht Menschen dargestellt, sondern Figuren
entworfen, die ästhetisch verlebendigte Masken sind. Dass
es sich bei den"Tierstimmen" in Canettis Auffassung vom Drama um solche
Figuren handelt, verdeutlicht die Schilderung einer Episode in seiner
Autobiographie und Canettis Kommentar dazu.
Canetti
liest sein Drama "Komödie der Eitelkeit"; unter den Zuhörern befindet
sich auch Franz Werfel, der mit dem Stück wenig anfangen kann.
"Werfel...
rief plötzlich mitten in die Rede des Hausierers hinein: Ein
Tierstimmenimitator, das sind Sie!', womit er mich meinte. Er hielt das
für einen Schimpf, gröber, rücksichtsloser, störender hätte es gar nicht
kommen können, er wollte es mir unmöglich machen, weiterzulesen, aber
er hatte die gegenteilige Wirkung, das war es ja genau, was ich
vorhatte, jede Figur sollte gegen die andere so klar abgesetzt sein wie
ein besonderes Tier und an ihren Stimmen sollte es zu erkennen sein, die
Geschiedenheit der Tiere übertrug ich in die Welt der Stimmen und es traf mich, als ich seine Beschimpfung aufnahm, wie der Blitz, dass er etwas Richtiges erkannt hatte, allerdings ohne eine Ahnung davon zu haben, wozu diese Stimmenimitation diente" (A 135).
Es ist also die "Geschiedenheit der Tiere", die Canetti auf seinen Begriff der"Figur" überträgt, eine Bestimmung purer Negativität: die Figuren sind das, was sie sind dadurch, dass sie sich von anderen unterscheiden, und genau darin
will der Dramatiker sie zur Geltung bringen. Ihre Einzigartigkeit gilt
ihm als ein absolute Wert: sie repräsentieren nichts als diese
Einzigartigkeit selbst. Es sind keine Charaktere, die sich entwickeln
könnten, keine Subjekte, die in der Lage wären, über sich zu
reflektieren, sie "handeln" nicht, sie agieren und reagieren
aufeinander; wenn sie reden, so fragen sie nicht und antworten nicht:
sie reizen sich, und was wie Frage und Antwort aussieht, ist in der
dramatischen Wirklichkeit ein stimulus/response-Verhältnis. All dies
sind theoretische Konsequenzen des poetologischen Ansatzes Canettis,
nicht Menschen, sondern "Figuren" zur Darstellung zu bringen; sie wären
im einzelnen durch detaillierte Analysen der Dramen nachzuweisen, was
aber nicht genügen würde, da es sich um geschriebene Texte handelt, die
qua Sprache der individualisierenden Intention des Autors widerstreben:
man müsste sie tatsächlich hören. Einige Seiten vor seiner Schilderung der Lesung der "Komödie der Eitelkeit" schreibt Canetti denn auch:
"Um die Komödie zu erfassen, musste man sie hören, sie
war aus dem aufgebaut, was ich akustische Masken nannte, jede Figur war
durch Wortwahl, Tonfall, Rhythmus streng gegen alle anderen abgesetzt
und es gab keine Notenschrift für Dramen, in der sich das festhalten
ließ. Meine Intentionen konnte ich nur durch eine vollständige Vorlesung
des Stückes klarmachen" (A 128).
Es
gibt eine Aufzeichnung einer solchen Vorlesung von Canetti, doch soll
hier nicht untersucht werden, ob seine Intention dort realisiert ist.
Man müsste versuchen,
diese Aufnahme wie im Halbschlaf zu hören, ohne die Bedeutung der Worte
und Sätze zu realisieren, nur auf Stimmen und Vorgänge zwischen den
Stimmen lauschend und so, als ob man die Sprache nicht verstünde...
In einer Aufzeichnung "Über das Drama" aus dem Jahre 1942 vergleicht Canetti seine Vorstellung mit der Musik.
"Es wird mir langsam klar, dass
ich im Drama etwa verwirklichen wollte, was aus der Musik stammt. Ich
habe Konstellationen von Figuren wie Themen behandelt. Der
Hauptwiderstand, den ich gegen die 'Entwicklung' von Charakteren empfand
(so als wären sie wirkliche, lebende Menschen), erinnert daran, dass
auch in der Musik die Instrumente gegeben sind. Sobald man sich einmal
für dieses oder jenes Instrument entschieden hat, hält man daran fest,
man kann es nicht, während ein Werk abläuft, in ein anderes Instrument
umbauen. Etwas von der schönen Strenge der Musik beruht auf dieser
Klarheit der Instrumente.“
Die Zurückführung der dramatischen Figur auf ein Tier lässt sich mit dieser Auffassung
sehr wohl vereinen. Jedes Instrument ist ein ganz bestimmtes Tier oder
zumindest ein eigenes und wohlabgegrenztes Geschöpf, das mit sich nur
auf seine Weise spielen lässt. Im Drama hat man
die göttliche und über alle anderen Künste erhabene Möglichkeit, neue
Tiere, also neue Instrumente, neue Geschöpfe zu erfinden, und je nach
ihrer thematischen Fügung eine immer wieder andersgeartete Form. Es gibt
also unerschöpflich viele Arten von Dramen, solange es neue "Tiere"
gibt... (PdM 15).
Hier
zeigt sich nun deutlich der Widerspruch innerhalb von Canettis
Anthropologie, zwischen der angenommenen unendlichen Wandelbarkeit und
der realen Begrenztheit des menschlichen Individuums in der Konsequenz
für seine Poetik: ein vollgültiger "Mensch" ist
nur jemand, der seine absolute Verwandlungsfähigkeit noch nicht
eingebüßt hat, der sich all seiner "tierischen" und kulturellen
Möglichkeiten bewusst bleibt und offen ist für neue Verwandlungen.
Die Poetik, der Zwang zur Darstellung, verlangt jedoch begrenzte
"Figuren", also Gestalten, die sich nicht weiter wandeln: das zentrale
Anthropologicum selbst, die Verwandlungsfähigkeit,
kann also dramatisch "nicht dargestellt werden". Nur eine Perspektive,
die Produktion und Rezeption des Werks mit diesem zusammen in
Augenschein nähme, könnte hier vermitteln: die Gestaltung der "Figuren"
ist ein ordnender Kampf gegen der Fluss unaufhörlicher Verwandlung, (der nun auch negativ gesehen werden muss:
als bedrohliches Chaos (vgl. PdM 67). Von der Rezeptionsseite her sind
die gestalteten Figuren als Verwandlungsangebote zu sehen, als
Bereicherung von Verwandlungsmöglichkeiten. Nicht etwa
"Identifikationsangebote", Vorbilder, aber doch "Erfahrungen": so könnte
die Funktion literarischer Figuren für den Betrachter und Hörer aufgefasst
werden. Die Verwandlung eines "Menschen" in eine "Maske" findet schon
in der - vor allem akustischen - Wahrnehmung des poetisch gestaltenden
Jägers statt; die Auflösung der Starrheit der Maske, ihre Gestaltung zu
einer"Figur", ist ein ästhetischer Produktionsprozess,
der die "Maske" aus ihrem eigenen, ehemals lebendigen Zusammenhang
herausnimmt und in eine neue Konstellation überführt, in experimentelle
Konfrontationen mit anderen "Figuren" . Das Drama selbst wird dann
bestimmt von einem "Grundeinfall"; sein Ablauf ist eine Folge von Abwandlungen dieses Grundeinfalls mithilfe der "Figuren", den Elementen des dramatischen Vorgangs.
"Die
Abwandlung, was sich dann wirklich vollzieht im Spiel, soll ganz
einfach sein, also wenn das denkbar wäre, fast so einfach wie die
Tierplatte"18 sagt Canetti in dem eingangs erwähnten dramentheoretischen Gespräch mit Durzak.
Hier kommt nun eine Bestimmung
des "Tierischen" ins Spiel, die über die begehrte Einzigartigkeit in
der Gestalt des Geschöpfs hinausgeht: die Einfachheit des Vorgangs zwischen den einzelnen Figuren. Die Erlegung des Zebras durch den Löwen bezeichnet Canetti als dramatisch, "denn es ist eine Jagd" (Hervorh. H.T.); umgekehrt soll ein dramatischer Ablauf so einfach sein wie eine Jagd.
Ich habe behauptet, dass alle anthropologischen und die von ihnen abgeleiteten poetologischen Kategorien Canettis sich auf die Ursituation der Jagd beziehen
lassen; so auch die poetische Produktion selbst. Schon das Lauschen des
Dichters auf die Anzeichen des Lebendigen ist das Lauschen des "Jägers"
auf verwendbare" akustische Masken"; die Streifzüge durch das
nächtliche Wien sind Beutezüge; die Verarbeitung der "Masken" zu
gestalteten "Figuren" ist ein Prozess der Zubereitung eines literarischen "Mahls"; der Rezipient "verspeist" die Beute, verleibt sie sich ein. Dass der Dichter neue Geschöpfe produziert, ändert daran nichts: sie sind aus Elementen wahrgenommener Realität zusammengesetzt oder durch ein besonderes "Zubereitungsverfahren" gewonnen: durch das der Übertreibung.
"Es
interessiert mich nicht, einen Menschen, den ich kenne, präzis zu
erfassen. Es interessiert mich nur, ihn präzis zu übertreiben" (PdM
285). lautet eine Notiz aus der. Jahre 1971, die genau den Übergang von der Wahrnehmung zur Poetik, von passiver Rezeption zu aktiver Gestaltung bezeichnet, die poetische Gestaltung schon in der Erfassung. Dass das
dergestalt Zubereitete nicht allen Feinschmeckern gleich behagt, zeigt
zum Beispiel die Reaktion Marcel Reich-Ranickis, der die "Blendung" für
"ungenießbar" hielt". Ich halte es also nicht für unangemessen oder
frivol, Canettis "Psychologie des Essens" (MM 250 ff.) z.B., als deren
Ziel ein Teilaspekt der "Jagd", auch auf seine Weise der Menschenwahrnehmung und dichterischen Produktion anzuwenden, immer vorausgesetzt allerdings, dass
es hierbei um die "Umkehrung des Totenopfers" geht (MM 319), letztlich
darum "Menschen durch Worte am Leben (zu) erhalten" (PdM 80) und nicht,
sie konsumierend zu vernichten.
Die Vedauung Berlins
Als Canetti im September 1929 von seinem zweiten Berliner Aufenthalt nach Wien zurückkommt, erweist es sich, dass
er das "Gedränge der Namen", (F 249 ff.) als das er Berlin erlebt hat,
noch längst nicht verarbeitet hat; die Eindrücke sind noch nicht
"verdaut":
„Seit ich mitten in
der großen Namensküche gelebt hatte - drei Monate das erste und sechs
Wochen das zweite Mal -, hatte ich ein bedrängendes Gefühl des Ekels
davor, ich kam mir - eine Schreckensvision schon der Kindheit - wie eine
Mastgans vor, die festgesetzt und mit Namen zwangsgefüttert wurde. Der
Schnabel wurde einem offengehalten und Namensbrei hineingestopft" (F
336).
Es ist der langwierige und
quälende Prozeß der Verdauung dieses "Namensbreis", der dann zum Plan
einer "Comédie Humaine an Irren" (F 299) und schließlich zu den Figuren
der "Blendung" führte. Der Beginn der Gestaltung ist die Aufteilung in
Figuren, in die der Dichter dann, in einem "zornige(n) Versuch, von
(sich) abzusehen" (F 297), sich verwandelt, um das, was erst ihn
besessen hatte, in seine poetische Verfügungsgewalt zu bekommen.
"Das Rettende war, dass
es eine Figur war, die Umrisse hatte, die sich weiter trieb, die das
sinnlose Zerstreute sammelte und ihm einen Leib gab. Es war ein
schrecklicher Leib, aber er lebte. Er bedrohte mich, aber er hatte eine
Richtung (...) Sobald
die Figur in ihren ersten Umrissen erkannt ist, kehrt sich das
Verhältnis um und es ist nun gar nicht mehr so sicher, wer von wem
besessen ist und wer wen treibt" (F 296).
Die
Figur, zunächst eine spontane Gestaltung chaotischer Eindrücke, wird
zuerst als etwas Fremdes, Eigenmächtiges, Selbständiges erfahren,
bedrohlich wie ein wildes Tier, das bezwungen, gezähmt werden muss.
Das Erkennen der Umrisse ist der erste Schritt zur Bewältigung, die
Zerlegung in mehrere Figuren der nächste, sie psychologisch und
ästhetisch verfügbar zu machen. Wichtig ist nun, dass
die weitere Zerlegung das "Tier" nicht (etwa analytisch, gar
psychoanalytisch) "tötet", sondern andere "Tiere", lebendige Figuren,
zutage fördert, nicht tote, starre Masken oder Schemata der
Interpretation, sondern Geschöpfe mit einem eigenen Reservoir von
Ansichten und Verhaltensweisen.
Von
der geplanten "Comédie Humaine an Irren" wird nur der"Büchermensch"
Peter Kien realisiert. Das poetologische Konzept der "Figur" lässt erwarten, daß die Gestalten
des Romans von vorneherein ihres spezifisch Menschlichen, der
Verwandlungsfähigkeit, beraubt sind; sie "entwickeln" sich nicht,
sondern erleiden die Konsequenzen ihrer jeweils besonderen Einseitigkeit
und Borniertheit.
"Jede der
Figuren hat einen anderen Konstruktionsfehler, der sie von den
Mitfiguren weitgehend isoliert. Dies ist wohl das bedeutendste Merkmal
der immerhin nicht sehr zahlreichen Figurenwelt Canettis"20
schreibt Jan Papiór in einem Aufsatz über Canettis Anthropologie
literarischer Figuren. Die ästhetische Rechtfertigung für diese
poetologische Konsequenz der bis zur Groteske einseitigen "Figuren"
liegt in ihrer satirischen Prägnanz, ihrer "Selbstanprangerung" (A 22); sie klagen sich schon dadurch an, dass sie sind, wie sie sind; zusätzliche satirische Reflexionen des Erzählers werden dadurch
überflüssig; denn "keine Anklage, auch die des gewaltigsten Satirikers
nicht, könnte so viel bedeuten wie die Selbstanprangerung" (A 23).
Canetti schildert in seiner Autobiographie, dass er das, was er später"Selbstanprangerung" nannte, zuerst an Büchners "Wozzeck" erlebt habe, den er kennenlernte, nachdem er"Die Blendung" geschrieben hatte (A 15 ff.); ich denke aber, dass das Fragment
Büchners für Canetti nicht zu einer derartig intensiven Erfahrung
geworden wäre, hätte er hier nicht etwas dargestellt gefunden, was er
selbst anstrebte, was auch schon die Figurengestaltung der "Blendung"
bestimmt hatte. Die Faszination der "Blendung" beruht ja gerade auf der
satirischen Prägnanz der Figuren, die "deutlich und gewaltig" (A 121)
abgegrenzt, reflexionslos das sind, was sie sind, und sich gar nicht
verständigen können. Die physiognomische
Ungebrochenheit der Gestalten - sie sagen und tun, was sie denken und
wollen, ohne Rücksicht auf andere, es sei denn eine der Berechnung, ohne
"Verwandlung" - lässt sie hart aufeinander
prallen und in ihrer jeweils spezifischen "Verblendung" zugrunde gehen.
Die Redaktion aufs tierisch Individuelle liegt darin, dass die Gestalten jeweils ein
Laster figurieren, das mit denen der anderen nicht zu vermitteln ist -
da jeder einziges Exemplar seiner Gattung ist, gibt es keine
"Kommunikation", keine Gemeinsamkeiten. Als Karikaturen weisen die
grotesken Figuren auf Borniertheiten außerhalb der ästhetischen Geltung,
ohne dass der Erzähler noch darauf hinweisen müsste. Ihre beschränkt einseitige Gestalt klagt sich selbst an und damit jeden, der nichts ist als das, was er ist.
Offenkundig
trifft dies auf die"Figuren" der Blendung zu. Der Sinologe Peter Kien
ist von einem Bücherwahn befallen und erlebt die Konsequenz dieser
Einseitigkeit als eine Abhängigkeit von Büchern, die fast diese an
seiner Statt zum Träger der Handlung machen. Weil die Bücher jemanden
benötigen, der sie von Staub befreit, heiratet er Therese und macht sich
zum Opfer ihrer stupiden Weiblichkeit; weil Kien jemanden braucht, der
ihm die schweren Bücher, die er im Kopf trägt, abnimmt und hilft, sie
abends säuberlich auf ausgebreitetes Packpapier zu stapeln, lässt
er sich auf den Zuhälter Fischerle ein, der seinerseits von dem
Größenwahn befallen ist, er sei der eigentliche Schachweltmeister. Auch
die Nebenfiguren sind groteske, aus dem Prinzip der Übertreibung
entstandene, einseitige Figuren: Fischerles Frau, die nur an ihren Mann
denkt, der geile "Blinde", der ihn schließlich grässlich tötet, der immer betrunkene Kanalräuber, der schlaflose Hausierer und der "rote Kater", der brutale Hausbesorger.
Der Gorilla und die Wanze
Es scheint mir aber, dass
es da in der "Blendung" zwei Ausnahmen gibt, zwei Gestalten, deren
"Konstruktionsfehler" nicht leicht aufzufinden wären, zwei "Figuren",
die beinahe aussehen wie "Menschen": der Psychiater Georg Kien nämlich
und der "Gorilla".
Im "Augenspiel" schildert Canetti ein Gespräch mit dem Bildhauer Fritz Wotruba über den Roman.
"Das
scharf Umrissene der Figuren lag ihm, ...nur... den Psychiater konnte
er nicht leiden. Er fragte mich, ob ich mich da nicht geirrt
hätte, aus Liebe zu meinem eigenen jüngsten Bruder, von dem ich ihm
erzählt hatte. Soviel Häute, meinte er, könne kein Mensch haben, ich
hätte da eine Idealfigur aufgestellt, was ein Dichter in seinen Büchern
mache, das verrichte Georges Kien in seinem Leben" (A 123).
In der Tat ist der Einwand, dass
Canetti mit dem Psychiater einen idealen Menschen geschaffen habe und
nicht eine "Figur", kaum von der Hand zu weisen. Georges Kien, der
zunächst als Frauenarzt begonnen und gelebt hatte "wie Prinz Gautama,
bevor er Buddha wurde" (B 354), wandelte sich durch die Erfahrung eines
Irren, eben jenes "Gorillas", zu "einem der umfassendsten Geister seiner
Zeit", der "in einer Unzahl von Welten zugleich" (B 353) leben konnte.
Er ist lernfähig und in der Lage, erste Fehleinschätzungen zu
korrigieren, er "vermag es schließlich sogar, als "listenreicher
Odysseus" (B 379) sich in seinen Bruder hineinzuversetzen, ihn zu
verstehen, wenn auch nicht mehr zu retten: kurz, er hat alle idealen
Eigenschaften eines "Menschen".
Zum
Menschen geworden ist Georges Kien durch einen genialen Paranoiker, der
in der"Blendung" nur "der Gorilla" genannt wird, ein urtümliches Wesen
mit rohen Bewegungen und heftigen Affekten, das sich eine eigene Sprache
geschaffen hat und mit ihr eine eigene Welt, in der die Gegenstände
keine feststehenden Namen haben, sondern ihre Bezeichnungen wechseln im
"Kraftfeld von Affekten" (B 357). "Er schuf, was er brauchte, und fand
sich nach seinen sechs Tagen am siebenten darin zurecht. Statt zu ruhen,
schenkte er der Schöpfung eine Sprache. Was um ihn war, entstammte ihm"
(B 358).
Als
Georges Kien Zeuge eines"mythischen Liebesabenteuers" des "Gorillas"
mit der Erde wird, ist er von tiefem Zweifel an sich selbst erschüttert:
"Er sah sich als Wanze neben einem Menschen" (B 356). Der Psychiater verzichtet auf eine Behandlung des Irren und hört stattdessen nicht auf, ihn zu preisen:
"Wenn
es ein Leben reiner Geistigkeit gibt, so führt es dieser Verrückte" (B
360). Dieser "Gorilla" ist nicht als Figur konzipiert, sondern, wie sein
Widerpart, der Psychiater, als Ideal. Oder sollte es die Verblendung
Georges Kiens sein, die ihn den Irren so idealisieren lässt?
Man könnte es dabei belassen, hätte Canetti dieser Gestalt nicht so
viele Züge seiner selbst mitgegeben und ihn etwa zum Entdecker der
"Wirksamkeit der Masse in der Geschichte und im Leben des einzelnen" (B
365) gemacht. Es ist Georges Kien, dem der Autor seine Auffassung von
der "Masse" in den Mund zu legen scheint, die Charakterisierung der
"Masse" als eine "höhere Tiergattung":
"Von
der viel tieferen und eigentlichen Tiebkraft der Geschichte, dem Drang
der Menschen, in eine höhere Tiergattung, die Masse, aufzugehen und sich
darin so vollkommen zu verlieren, als hätte es nie einen Menschen gegeben, ahnten sie (die "normalen" Psychiater und Psychoanalytiker, die alles mit dem "Wunsch nach Genuss" deuten) nichts. Denn sie waren gebildet und Bildung ist ein Festungsgürtel des Individuums gegen die Masse in ihm selbst.
Den
sogenannten Lebenskampf führen wir, nicht weniger als um Hunger und
Liebe, um die Ertötung der Masse in uns . . . Die Menschheit bestand
schon lange, bevor sie begrifflich erfunden und verwässert wurde, als Masse. Sie brodelt, ein ungeheueres, wildes, saftstrotzendes und heißes Tier in uns allen, sehr tief, viel tiefer als
die Mütter. Sie ist trotz ihres Alters das jüngste Tier, das
wesentliche Geschöpf der Erde, ihr Ziel und ihre Zukunft" (B 365).
Die
Darstellung der Masse als"ein einziges Geschöpf, mit fünfzig Köpfen,
hundert Beinen und hundert Armen ausgestattet, die alle auf genau
dieselbe Weise oder in einer Absicht agieren", findet sich auch in
"Masse und Macht" (MM S. 31).
Der Vergleich betrifft aber nur die Metaphorik; eine Vision von der Urmasse, aus der alle Individualität
stamme und in die alle Individualität einst wieder auf- oder untergehen
müsse, wie sie die Romangestalt Georges Kien entwirft, findet sich in
"Masse und Macht" nicht, und man kann, wie Wolfgang Hädeck gegen Ernst
Fischer zu Recht angeführt hat, die Vision Kiens nicht wie eine
politische Meinungsäußerung des Autors Canetti behandeln21. Mich interessiert hier die anthropologische und poetologische Funktion der
Tiermetapher: Wenn die "Masse in uns" als eine Art inneres Tier
betrachtet wir, so bedeutet die Entdeckung und Darstellung des
"Tierischen im Menschen", dass es nicht nur um
die formale Einzigartigkeit des Individuellen geht (dies ist der Aspekt
der"Figur"), sondern inhaltlich auch um ein bestimmtes Arsenal von
Verhaltensweisen, das sich versteckt hinter den Konventionen und Geboten der Höflichkeit, hinter aller Kultur und Bildung.
Während
Peter Kien, Therese Krumbholz, Fischerle und seine Kumpanen und "der
rote Hahn" Benedikt Pfaff Iso scharf umrissene Figuren sind, deren
Einzigartigkeit von ihrem jeweiligen Defekt, ihrer partiellen Blindheit
bestimmt ist, erscheint der"Gorilla" - in den Augen Georges Kiens - als
das Ideal eines gottgleichen Schöpfers, ein "Mensch", neben dem sich der
Psychiater wie eine "Wanze" fühlt, während Georges Kien selbst dem vom
Autor Canetti in seinem anthropologischen Werk entworfenen Ideal eines
Menschen am nächsten kommt, der seine Verwandlungsfähigkeit
noch nicht eingebüßt hat. Beide Gestalten werden innerhalb der
Romanwelt als Verrückte bezeichnet: der"Gorilla" als ein"genialer
Paranoiker" (B 360); der Psychiater von seinen Assistenten als ein, wenn
auch "halber Narr", der wie ein kleines Kind schreit: "Ich will
verrückt sein!" und seine Patienten nur heilt, weil er es nicht
verwinden kann, "dass
sie bessere Narren sind als er" (B 365). Georges Kien selbst erklärt
seine Tätigkeit als Psychiater und das Phänomen der Verrücktheit aus einer Quelle; beidesmal geht es darum, dass
"die Masse" in ihm und "in ihnen besonders stark ist und keine
Befriedigung findet" (B 365): deshalb werden Menschen verrückt und
deshalb wurde er Psychiater, einer, der sich als ein "Diener" der
Kranken" versteht, "aus Bewunderung für die Großartigkeit der Irren" (B
358). Als beinahe vollendete "Menschen" nähern sich beide, der
Psychiater und der "Gorilla", einem Zustand jenseits von Geschichte und
Gesellschaft an: der
eine auf eine mythische, prähistorische Weise, der andere aus einer
Kultur und Geschichte abweisenden "posthistorischen" Sehnsucht nach dem
Aufgehen in einer "höheren Tiergattung", der Masse.
Sowenig
wie in "Masse und Macht" geht es allerdings in der "Blendung" um eine
geschichtsphilosophische Konstruktion, die Beschwörung eines tierischen
"goldenen Zeitalters", dem man sich etwa durch ein Sich-Verlieren in der
Masse wieder annähern könnte. Der Wunsch
Georges Kiens danach und seine Idealisierung des Wahnsinnigen sind das
Charakteristikum der Romanfigur, nicht des Autors, sosehr der
offenkundige Abstand dieser Gestalt von der satirischen Zeichnung der
übrigen Figuren dazu verführen mag, ihn als Sprachrohr des Autors, seine
Vorstellungen als Lösungsangebote für den Leser misszuverstehen.
Eine Sau und ein Rudel Wölfe
Eine
dramatische Darstellung der "Masse" hat Canetti mit dem Drama "Komödie
der Eitelkeit" versucht, "ihre Bildung, ihre zunehmende Dichte, ihre
Entladung" (A 102). Den Verlauf (des ersten Teils) schildert Canettis
selbst folgendermaßen: "Die Szenen sind wie in einer Spirale angeordnet,
erst längere Szenen, in denen Figuren und Ereignisse sich aneinander
erklären, dann immer kürzere. Mehr und mehr bezieht sich alles auf das
Feuer; erst aus der Ferne, dann näher und näher, bis eine Figur
schließlich selbst zum Feuer wird, indem sie sich hineinstürzt" (A 101).
Der
Verlauf ist also einfach, "fast so einfach wie die Tierplatte" (s. o.).
es wird keine "Handlung" vorgeführt, sondern ein Vorgang, der der
Massenbildung. Abgesehen von diesem "Prähistorischen" des Verlaufs
erscheint Tierisches an zwei Stellen: einmal als sozial denunzierende
Metapher und entsprechende Verwandlung des Opfers, das die Beschimpfung
auf sich nimmt, im zweiten Teil als Regression der einzelnen in ein Rudel Wölfe.
Der das Spiegelverbot rechtfertigende Prediger Brosam predigt gegen die Eitelkeit:
"Eine
Sau ist die Eitelkeit, eine grobe, stinkende Sau! Die kann sich lang
putzen mit Tand und mit Flitter! Wie ein Tau kann sie glitzern und
stolzieren wie ein Pfau. Was hilft es ihr? Man kennt sie, am roten,
geschminkten Rüssel, den schminkt sie, den spitzt sie, den streckt sie
jedem hin. Denn, wo glaubt ihr, wo ist ihr am wohlsten? Im Dreck, da ist
ihr am wohlsten, im Dreck. Reißt ihr den Putz vom
Leibe, den gleitenden Balg, reißt ihr den Balg vom Leibe und schaut
hin, liebe Brüder! Unterm Balge ist sie eine grobe, stinkene Sau! Eine
Sau ist die Eitelkeit . . ." (D 101).
Am
Ende des ersten Teils des Dramas reißt die Gemischtwarenhändlerin sich
die Kleider in Fetzen vom Leibe, rennt auf das Feuer zu, in dem die
Spiegel brennen, und brüllt: "Ich bin eine Sau! Ich bin eine Sau!" (D
106).
Hier kommt eine sozialpsychologische Funktion von Tiernetaphern
ins Spiel: die der Beschimpfung und Erniedrigung, wer so zum
"Untermenschen" erklärt wird, ist vogelfrei, kann gejagd und vernichtet
werden. Im Drama ist es ein Akt der Identifikation mit dem Aggressor,
mit dem die Gemischtwarenhändlerin die Beschuldigung auf sich nimmt und
im Feuertod die Erlösung von ihrer tierischen Sündhaftigkeit sucht.
Die Funktion der Herabwürdigung durch Tiermetaphern wird von Canetti hier dargestellt; wo er, wie etwa in seiner Autobiographie, Tiermetaphern zur Charakterisierung von Menschen verwendet, spielt dieser Aspekt niemals eine Rolle; er würde schon den Tieren zuliebe keinen Menschen mit einem Tiernamen beschimpfen wollen!
Im dritten
Teil der"Komödie der Eitelkeit" verwandeln sich alle Figuren in Wölfe;
es handelt sich um die Szene im Vorraum des Spiegelbordells. Eine
Szenenanweisung lautet:
"Es ist
stockfinster. Man vernimmt ein Scharren wie von vielen unsicheren
Schritten. Menschen tasten den Boden mit Händen und Füßen ab. Es können
aber auch Tiere sein. Ein Wolf heult plötzlich auf" (D 170), und etwas
später:
"Jetzt sind es lauter Wölfe, und sie heulen vor Hunger und Angst" (D 171).
Diese Tiere
sind nun keine "Figuren" mit dem Reiz eines neuartigen, interessanten
Geschöpfs, sondern deuten auf einen inneren Regressionsvorgang vom
Individuum in das "Rudel"; die "Masse in ihm" bricht hervor und zerstört
seine Einzigartigkeit mit seiner "Menschheit".
Dass
aber die Identität und Individualität, die die Protagonisten am Ende
des Dramas mithilfe wiedereroberter Spiegel gewonnen haben, nicht
unbedingt der vorzuziehende Zustand gegenüber dem tierischen Geheul
darstellt, deutet die letzte Szene an:
"Straße.
Ein schwarzer Strom treibt auf ihr daher. Von allen Seiten fließen
Menschen zu. Jeder hält einen Spiegel oder ein Bild von sich hoch. Von
tosenden Ich-Rufen widerhallt die Luft. ICH! ICH! ICH! ICH! ICH! ICH!
ICH! ICH! Es wird kein rechter Chor daraus . . ."
Eine Masse von selbst-reflektierten Individuen unterscheidet sich nicht wesentlich von einem Rudel hungriger Wölfe; das Bild scheint anzudeuten, dass es hier nur graduelle Unterschiede gibt.
Macht der Liebe oder Trieb zur Macht?
Eine
Abhandlung über "Tierisches" wäre nicht vollständig ohne einen Hinweis
auf die Rolle der Sexualität. Für das Tabu, das die Mutter ihm auferlegt
hatte in bezug auf alles, was Erotik betraf, ist Canetti ihr ein Leben
lang dankbar; ihm verdanke er seine Lernfähigkeit, seine "Frische und Naivität für alles, was (er) wissen wollte" (gZ 230). "Dass
alles Gestalt annahm und nichts sich bloß summierte" (ebd.), verdanke
er dieser Frische. Als ein Mitschüler ihm erklären wollte, wie man es
mache, nämlich wie der Hahn auf der Henne, gerät der Junge,"von den
Shakespeare - respektive Schillerabenden mit der Mutter erfüllt, . . in
Zorn" (gZ 151) und beschimpft seinen Klassenkameraden als einen Lügner.
Als er einmal beobachtet, wie die Haushälterin seiner Wirtin eine nackte
Mitbewohnerin peitscht, die er vorher als "schön, wie eine nördliche
Madonna" (F 168) beschrieben hatte, "glaubt (er)
es nicht, es war wie auf dem Theater", was er dann aber registriert,
ist nicht die erotische Komponente, sondern die Darstellung einer
Machtbeziehung. "Ihre Ergebenheit, die zur Szene gehörte, die vielleicht
das Wichtigste war, was vor Augen geführt werden sollte, ekelte mich
nicht weniger als das Henkergehabe der Tante" (F 170 f). Die Wirtin
beobachtet er später, wie sie die Rückseite von Bildern ihres
verstorbenen Mannes ableckt. "Sie tat das geflissentlich, ihre Zunge
hing weit heraus, wie die eines Hundes, sie war zum Hund geworden und
schien es zufrieden" (F 172). Es sind solche "Perversionen", die
Tierbilder provozieren, niemals jedoch schildert Canetti "normale"
Sexualität als "tierisch". Seine eigene Sexualität wird in der
Autobiographie nirgends dargestellt; es sei denn, man nähme die
auffällige Tatsache, dass er bei vielen Frauen, denen er begegnet, als einen ersten Eindruck beschreibt, wie sie riechen,
als eine solche Schilderung (vgl. gZ 240,251,255,261; F 64,168,221).
Sexualität ist jedoch ein Hauptthema seines ersten Dramas, der
"Hochzeit".
In diesem Stück, dessen Uraufführung 1965 in Braunschweig eine Anzeige wegen "Erregung geschlechtlichen Ärgernisses"22
einbrachte, scheint es in erster Linie darum zu gehen, die abgrundtiefe
Schlechtigkeit derer anzuprangen, die nichts als das Eine wollen, und
das von vielen und immer da, wo es nicht erlaubt ist. Die Vorstellung
eines drohenden Unterganges, die der "Idealist Horch" den
Hochzeitsgästen als ein Gesellschaftsspiel beschwört, wirkt
stimulierend: Auf die Frage, was jeder zuletzt für sein Liebstes tun
würde, antworten fast alle, dass sie sie - nun,
eben "lieben" würden, oder was man so dafür hält, die Brautmutter den
Schwiegersohn, die Frau des Apothekers den "Idealisten", der Direktor
Schön die Frau des Hauses, die Witwe Zart den Direktor, der Bräutigam
das vierzehnjährige Mariechen, diese die Frau des Apothekers, die
schwachsinnige Pepi und die Braut am liebsten den Geilsten von ihnen,
den achtzigjährigen Dr. Bock, der alle "frischen Weiber gern hat" (D
58). "Der Kopulationsreigen ist vollständig, er hat die bürgerliche
Maskerade nicht mehr nötig, er wird gleichsam als Polonaise öffentlich
getanzt", heißt es dazu in einem Aufsatz von Manfred Durzak23, und Adorno, der damals ein Gutachten schrieb, sprach von einem Pandämonium blinder Triebhaftigkeit24.
Doch als es schließlich zur Katastrophe kommt - das Haus beginnt zu
wackeln und stürzt dann wirklich ein -, regt das nicht zu "Liebestaten"
an, sondern "zur äußersten Gehässigkeit, zu Verrat, Prügelei und
Totschlag": Der Sargfabrikant Rosig und Doktor Bock verraten dem
Apotheker, dass seine Frau ihn vergiften will,
die er daraufhin erwürgt, der Professor Thut und seine Frau lassen ihr
Kind "durchs Loch" (D 67) fallen, und die Brautmutter stiftet den
Schwiegersohn an, Väter Segenreich mit einem schweren Sessel zu
erschlagen, während der Direktor Schön sich in einen jaulenden Hund verwandelt (D 72). Die Motive für diese Untaten stammen nicht aus der Sphäre sexueller
Triebhaftigkeit: Die Frau des Apothekers will nicht einen anderen Mann,
sondern die Apotheke, und Vater Segenreich wird ermordet, weil er
niemanden aus "seinem Haus" lässt, als es schon
einstürzt. "Ein Haus, was ich gebaut habe, das stürzt nicht ein" (D
61), sagt er und bleibt stehen, "die Beine gespreizt, eine große
steinerne Figur vor der Türe welche nicht mehr da ist" (D 71).
Um dieses Haus geht es, auf einer zweiten Ebene der Motive, jenseits einer "Sexualität an sich"26; diese
ist Mittel, nicht letzter Zweck der Handelnden. Es gehört der alten
Gilz; die Enkelin will es besitzen für ihre kommende Heirat, Professor
Thut denkt an die "Zukunft (seines) Kindes" (D 16) und will es kaufen;
die Geschäftspartner Max und Gretchen wollen mit ihm spekulieren; alle
erwarten den Tod der alten Gilz, die jedoch nicht daran denkt, zu
sterben: "l leb alleweil no" (D 12), repitiert sie, während ihr Papagei
den Wunsch der anderen skandiert: "Haus! Haus! Haus!" (D 11 f). Der Tod
ist es, der die Menschen schlecht macht 27,
jeder Kampf ums Überleben, jeder Machtkampf ein Spekulieren auf
Leichen: dies ist das Grundthema der "Hochzeit", nicht die "tierische"
Triebhaftigkeit im Sexuellen. Derjenige, der schon durch seinen Namen
für die "reine" Geilheit stünde, hält dem Sargfabrikanten Rosig
entgegen: "Bock: ...'Ich finde das unanständig, auf Leichen zu spekulieren’" (D 45); doch antwortet der Bestattungsunternehmer, dass
Doktor Bock nichts wesentlich anderes täte, wenn er, als Arzt, die
Keime des selbstgezeugten Lebens zerstört, indem er "seine eigenen
Kinder aus den Weibern" herausschabt und sich dafür noch bezahlen läßt“
(D 45).
Die Sexualität und das Haus sind 'Maske', "hinter der etwas anderes, Tieferes verborgen liegt: der Wunsch nach Macht"28, dies ist der menschheitsgeschichtliche Skandal, den das Stück aufdeckt, nicht ein "Ärgernis" des Geschlechtlichen.
"Die groteske Welt des jungen Canetti ist ohne Hoffnung, ist zum Entsetzen", schreibt Dagmar Barnow29; das soll nicht etwa gemildert werden, wenn ich auf zwei
Aspekte
des Stückes hinweise, die so etwas wie einen Schimmer von Hoffnung
zulassen: er ist schwach genug. Das eine ist der Satz, der "Gegen-Satz
zur Hoch-
zeit"30, aus dem Canetti den "Ursprung ... des ganzen Stücks" erklärt; "diesem
Satz zu Ehren" sei das Stück"erfunden worden"31. Es handelt sich um den letzten,
den die sterbende alte Kokosch, die Frau des Hausbesorgers, äußert: "Und da hat
er mich auf den Altar zogen und hat mich küsst und so lieb war er" (D 73), Canetti
will diesen Satz während eines Spaziergangs in Wien gehört haben.
Das
zweite ist etwas, was sich erst dem Hörer ganz erschließt. Erich Fried
meinte zu einer Lesung Canettis aus der "Hochzeit" im Jahre 1962, dass es heute schwerlich einen Dichter aus dem deutschen Sprachbereich gebe, "der ein Drama mit dreißig extrem verschiedenen Figuren mit so unheimlicher Präzision und Lebendigkeit zu lesen vermag"32.
Es ist die grandiose "tierische" Vielfalt der einzelnen Figuren, die -
bei all der dargestellten "Schlechtigkeit des Menschen" (PdM 238) - den
Eindruck der Lebendigkeit überwiegen lassen, so dass ihr Untergang, als Selbstzerstörung oder als ein unverschuldeter, äußerer verstanden, durchaus, schon aus diesem ganz
formalen Grunde, "Mitleid und Schrecken" hervorrufen kann. Das
"Pandämonium der Leidenschaft" ist auch eine verzweifelte Beschwörung
des Lebendigen.
Das Lachen der Hyänen
Ich denke, dass die physiognomisch-poetische Anthropologie Canettis - seine Wahrmehmung
von Menschen als begrenzte Gestalten - und die Poetik anthropologischer
Figuren - die "übertriebene" Darstellung von Menschen als notwendig
einseitig und "lasterhaft" - grundsätzlich eine Interpretation in zwei
Richtungen erfordern, nämlich:
1. Was ist in ihnen an Macht enthalten? und
2. Was ist in ihnen an Leben enthalten?
In der Beziehung dieser beiden Fragen zueinander geht es um das Verhältnis von Leben zum Über1eben.
Die
eine Interpretationsrichtung ist kritisch-analysierend: Sie richtet
sich auf Machtverhältnisse, die sich hinter Konventionen, Kultur und
Bildung, aber auch hinter philosophischen und religiösen Sinn-Systemen
verbergen. Hier geht es also um Entlarvung, und das bedeutet für Canetti
meist die Aufdeckung des dem menschlichen Ausdruck und seinem Verhalten
zugrundeliegenden Paradigmas der Jagd, des Zwangs zum Töten für das eigene Überleben.
Der
zweite Aspekt betrifft den Wunsch des Dichters und Anthropologen, den
"wirkliche(n) Bestand dessen, was an Lebendem da ist,zu erfassen"33
und erfahrbar zu machen; hierin ist die Interpretation emphatisch,
sympathetisch, positiv. Da es nicht um die biologische Faktizität des
Lebens geht, sondern um die Rettung des unbezweifelten Wertes alles
Lebendigen, richtet sich der doppelte, der kritisch-analysierende und
der emphatisch-aufnehmende Blick Canettis - bzw. sein Ohr - nicht nur
auf die Vielfalt der Geschöpfe, sondern darüberhinaus auf die Handlungen
und Ausdrucksweisen, wo sie als symbolische Ersetzungen des Tötens aufgefasst werden können. Es wird dann gezeigt, dass
eine bestimmte Verhaltens- oder Ausdrucksweise "eigentlich" einen Mord
oder einen Vorgang darstellt, dann aber emphatisch hervorgehoben, dass sie z.B. den Mord nur darstellt und nicht ausführt: jedes ästhetische "Verhalten", jede künstlerische Darstellung gehört dann auf die Seite des Lebens, was immer sie, der Form nach, an Macht enthalten mögen. Ich möchte diese doppelte Blickrichtung der
Symbolisierung menschlichen Verhaltens an zwei Beispielen
demonstrieren: Canettis Auffassung vom Lachen und seine Darstellung des
Bildhauers Fritz Wotruba in seiner Autobiographie.
Der
kleine Elias lebt mit seiner Mutter in Manchester, das Leben im Haus in
der Burton Road ist gesellig und heiter, abends kommen die vielen
Verwandten der Mutter zu Besuch, und auch andere befreundete Familien.
Die Mutter zwingt den jungen Canetti, Französisch zu lernen; da die
Lehrerin aber zu wenig auf die Aussprache achtet, klingt diese so
drollig, dass es die Gesellschaft sehr belustigt.
"Als nächstes Mal Gäste kamen, platzierten
sie sich alle im gelben Salon wie für eine Vorstellung, ich wurde
heruntergeholt und aufgefordert, die französische Geschichte herzusagen.
Ich fing an: 'Paul etait seul a la maison', und schon verzogen sich
alle Gesichter zum Lachen. Ich wollte es ihnen aber zeigen und ließ mich
nicht beirren, ich sprach die Geschichte zu Ende. Als es soweit war,
bogen sich alle vor Lachen. Mr. Calderon, der immer der lauteste war,
klatschte in die Hände und rief: 'Bravo! Bravo!' Onkel Sam, der
Gentleman, brachte den Mund nicht mehr zu und fletschte alle seine
englischen Zähne. Mr. Innie streckte seinen riesigen Schuhe weit vor,
lehnte den Kopf nach hinten und heulte. Selbst die Damen, die sonst
zärtlich zu mir waren, und mich gern auf den Kopf küssten,
lachten mit weit offenem Mund, als ob sie mich im nächsten Augenblick
verschlingen würden. ( ) Ich brachte alles, was ich damals erlebte, in
Zusammenhang mit den Büchern, die ich las. Es war gar nicht so weit gefehlt, dass
ich die hemmungslos lachende Meute der Erwachsenen als Menschenfresser
empfand, die ich aus 'Tausendundeine Nacht' und 'Grimms Märchen' kannte
und fürchtete" (gZ 64 f).
Die
erste Erfahrung dessen, was er später eine "Meute" nannte, - jedenfalls
die erste, die er beschreibt -, machte das Kind Elias mit Gästen,
bekannten und geliebten Menschen, die ihn auslachten. Die Angst des
Kindes verwandelt die Menschen von vertrauten Namensträgern in
bedrohliche Körperteile, die nicht mehr Menschen, sondern gefährlichen
Tieren zuzugehören scheinen: Von"Onkel Sam" werden nur noch die Zähne
wahrgenommen, die er "fletscht", Mr. Innie heult wie ein Wolf, und die
zärtlichen Damen werden zu gierigen Mäulern.
Für Canetti bezeichnend ist es, dass
er den Horizont seiner Interpretation - derjenigen, die der
Autobiograph dem angstvollen Kind unterstellt - aus Büchern hat, aus
gelesenen Märchen. Hier sind die Meuten vorgebildet, die er dann in der
Realität wiederfindet, als Grundmuster von Verhaltensweisen, die, von
Kultur und Zivilisation verdeckt, hinter der Oberfläche des
Konventionellen und Höflichen, durch "physiognomische", aber gleichwohl
durch Lektüre gesteuerte Wahrnehmung und Deutung ans Licht geholt werden
können. Die Angst des Kindes nimmt vorweg, was später, für den
satirischen Dichter und den kritischen Interpreten menschlicher
Verhaltensweisen, konstitutiv werden sollte: die Entdeckung der "Meute"
von Menschenfressern unter den freundlichen Verwandten.
Ein
zweites Mal schildert Canetti das Lachen einer Gruppe von Menschen; es
handelt sich um den Besuch einer Vorlesung von Karl Kraus in Wien. Das
Gesicht von Karl Kraus erscheint dem jungen Zuhörer "eindringlich und
fremdartig "wie das eines Tieres, aber ein neues, anderes, keines, das
man kannte" (F 70); was ihn aber besonders fasziniert, ist dessen
unendlich variable Stimme, die, als ein "verlangsamtes Krähen" (F 69)
beginnend, sich rasch wandelt und eine erstaunliche Vielfalt produziert.
Der ganze, bis zum letzten Platz gefüllte Vorlesungssaal steht unter
dem Bann dieser Stimme, "es hätte mich nicht gewundert, wenn die Stühle
sich gebogen hätten" (F 70); unter ihrer Einwirkung entwickelt der ganze
Saal eine eigene, eigentümliche Dynamik. Der Erzähler berichtet:
"Schon
die erste Pointe, eigentlich war es nur eine Anspielung, wurde durch
ein Gelächter vorweggenommen, das mich erschreckte. Es klang begeistert
und fanatisch, befriedigt und drohend zugleich, es kam, bevor noch
eigentlich ausgesprochen war, worum es ging. ( ) Es waren nicht
einzelne, die lachten, sondern viele zusammen. Wenn ich einen schräg
links von mir ins Auge fasste, um die Verzerrungen seines Gelächters, dessen Ursachen ich nicht erfasste,
zu begreifen, klang es hinter mir genauso und ein paar Sitze weiter weg
auf allen Seiten ... Immer waren es viele und immer war es ein
hungriges Lachen. Ich hatte bald heraus, dass die Leute zu einem Mahl gekommen waren und nicht, um Karl Kraus zu feiern" (F 69 f.).
Diesmal
ist Canetti nicht das Opfer, und doch klingt ihm das Lachen bedrohlich,
er "versteht" es nicht, er sieht nur Verzerrungen; und plötzlich ein
Erkenntniseffekt: Aha, ein Mahl!
Warum ein Mah1? Was hat das Lachen mit dem Essen, zu tun?
Die Antwort steht in Canettis anthropologischen Hauptwerk, in "Masse und Macht":
"Das Lachen ist als vulgär beanstandet worden, weil man dabei den Mund weit öffnet und die Zähne entblößt. Gewiss enthält
das Lachen in seinem Ursprung die Freude an einer Beute oder Speise,
die einem als sicher erscheint. Ein Mensch, der fällt, erinnert an ein
Tier, auf das man aus war und das man selber zu Fall gebracht hat. Jeder
Sturz, der Lachen erregt, erinnert an die Hilflosigkeit des Gestürzten;
man könnte es, wenn man wollte, als Beute behandeln. Man würde nicht lachen, wenn man in der Reihe der geschilderten Vorgänge weitergehen und sich's wirklich einverleiben würde. Man lacht, anstatt es
zu essen. Die entgangene Speise ist es, die zum Lachen reizt; das
plötzliche Gefühl der Überlegenheit, wie schon Hobbes gesagt hat ... Es
scheint, dass die
Bewegungen, die vom Zwerchfell ausgehen und fürs Lachen charakteristisch
sind, eine Reihe von inneren Schlingbewegungen des Leibes
zusammenfassend ersetzen" (MM 255).
Das Lachen ist ein "symbolischer Akt", die Ersetzung der Einverleibung: anstatt die
von Karl Kraus satirisch Vernichteten zu fressen, lachen seine
begeisterten Zuhörer, indem sie sich symbolisch etwas "einverleiben":
seine Sätze nämlich, seine Urteile. Selbst das Lachen also, etwas genuin
Menschliches, verweist
auf einen tierischen Ursprung - allerdings auch gleichzeitig auf die
Differenz, die unüberbrückbare Entfernung von diesem Ursprung; denn es
handelt sich um einen "symbolischen Akt", zu dem Tiere nicht fähig
wären. Die physiognomische Kritik des Lachens entlarvt es als einen
ursprünglich kannibalischen Akt; von hier aus erklärt sich die Angst,
die es auslösen kann, und das Gefühl der Überlegenheit des Lachenden.
Andererseits ist das Lachen dadurch ausgezeichnet, dass es nicht dieser kannibalische Akt selbst ist, sondern ihn ersetzt. Man kann durchaus damit einverstanden sein, dass es sich bei den Zuhörern von Karl Kraus um eine hungrige Meute handelt, die dessen Opfer am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen
würde: dies ist sogar eine Seite der Lebendigkeit und Dynamik der
Menschenmenge, macht sie zu einem faszinierenden Erlebnis: solange sie
es nicht tut, und die Opfer wirklich frisst!
Ich denke, dass
diese doppelte Richtung der Interpretation für das Verständnis von
Canettis Hauptwerk "Masse und Macht" und für die Funktion des
"Tierischen" in seinem gesamten Werk von großer Bedeutung ist. Es geht
ihm nicht darum, die Tendenz zur Massenbildung und den Kampf ums
"Überleben" zu denunzieren, um dann etwa das Gegenbild einer
Gesellschaft zu entwerfen, in der es weder Massenbildungen noch
Machtkämpfe gäbe; sondern darum, beide Tendenzen in solche Bahnen zu
lenken, dass sie umgekehrt werden und das Leben
nicht bedrohen, sondern bereichern. Die Entlarvung des Prähistorischen
in der Kultur ist nicht in erster Linie deren satirische Negation,
sondern gerade auch die Anerkennung ihrer enormen Leistung in der
Umlenkung des Tödlichen zum Lebensbewahrenden.
Ein mörderischer Panther
Wenn
Canetti also in der Tätigkeit des Dirigenten den anschaulichsten
"Ausdruck für Macht" (MM 453) findet, wenn er die Stellungen des
Menschen auf das hin untersucht, "was sie an Macht enthalten" (MM 445)
und etwa im Sitzen auf gepolsterten Sesseln "ein dunkles Gefühl, davon,
dass (man) auf Lebendem lastet", (MM 449) im Liegenden "das gejagte und getroffene Tier" (MM 451) entdeckt, so vergisst er doch niemals, dass
es sich um "symbolisch gemilderte Form(en)" (MM 449) handelt, nicht um
"reale" Machtausübung. Canetti betreibt weder historische Analyse noch
etwa eine biologisch orientierte Verhaltensforschung. Seine Absicht ist,
den Machthaber und Überlebenden "in all seinen Schlupfwinkeln
aufzustöbern und so darzustellen, wie er ist und immer war" (MM 540),
und dazu analysiert er vor allem die Formen der Machtausübung. Der
physiognomische Blick für Machtverhältnisse soll geschult werden; denn
"wer der Macht beikommen will, der muss den
Befehl ohne Scheu ins Auge fassen und die Mittel finden, ihn seines
Stachels zu berauben" (MM 543); die Mittel selbst werden nicht
angegeben. Canetti glaubt an die Kraft von Erkenntnis und
phänomenologischer Analyse: hierin ist er Aufklärer geblieben, jedoch
ohne ein "Prinzip Hoffnung" außer dem der "schwärzesten Kenntnis".
"Man muss
den Menschen fassen, wie er ist, hart und unerlöst. Man darf ihm aber
nicht erlauben, sich an der Hoffnung zu vergreifen. Nur aus der
schwärzesten Kenntnis darf diese Hoffnung fließen, sonst wird sie zum
höhnischen Aberglauben und beschleunigt den Untergang, der näher und
näher droht" (PdM 209).
Doch zurück
zu den Tieren. Viele der Menschen, die Canetti in seiner Autobiographie
darstellt, werden mit Tiernamen bedacht. Das wunderliche, unbekannte
Tier Karl Kraus wurde schon erwähnt (F 70); über seine spätere Frau Veza
erfährt Canetti zuerst, dass sie aussehe wie
"ein Rabe zur Spanierin verzaubert" (F 69); die Haushälterin der Frau
Weinreb in der Haidgasse in Wien, von allen nur "der Henker" genannt,
hat ein unheimliches "Katzengesicht" (F 165); die schönste Frau, die
Canetti je gesehen hat, die Lyrikerin Anja Arkus, hatte "den Kopf eines
Luchses" (F 269). Hermann Broch erlebt er als einen "großen, schönen
Vogel, aber mit gestutzen Flügeln" (A 31), dessen Augen aber "nie auf
Greifen, auf Erbeuten aus waren" (A 37). Die Tochter Alma Mahlers ist
eine "Engels-Gazelle vom Himmel" (A 62) und stirbt bald, und Franz
Werfel hat ein "Froschauge", während "sein Mund dem eines Karpfens
glich" (A 63). Musil hatte "etwas von einer Schildkröte" (A 181), und
Canetti selbst wurde einmal von John Heartfield mit einem "Du Termite
du! Selbst ein Termite!" bedacht (F 252). Diese Charakterisierungen
dienen Canetti dazu, die Menschen, mit denen er gelebt hatte, als
individuell begrenzte Figuren darzustellen, wie sie dann zu einem Teil
seiner selbst geworden, in ihn eingegangen sind. Canetti, der in seiner
Jugend jede neue Erfahrung als ein Gefühl körperlicher Erweiterung
empfunden hatte (gZ 266), erfährt auch das Erlebnis von Menschen als
eine Einverleibung von Figuren. Er, der von sich sagt, dass er
seit seinem zehnten Lebensjahr das Gefühl hatte, "aus vielen Figuren zu
bestehen" (F 152; vgl. gZ 127), erlebt Menschen, auf die er sich einlässt,
als neue Verwandlungsmöglichkeiten seiner selbst. Seine Autobiographie
stattet ihnen Dank ab. Für sie gilt das, was er in "Masse und Macht"
über die Idee der literarischen Unsterblichkeit formuliert hat:
"Nicht
nur hat man es verschmäht, zu töten, man hat alle, die mit einem waren,
mitgenommen in jene Unsterblichkeit, in der alles wirksam wird, das
geringste wie das größte" (MM 319).
Keine
harmlose Charakterisierung zur Aufbewahrung in einer inneren,
lebendigen "Tierwelt", sondern durchaus "schwärzeste Kenntnis", aus der
dann allerdings auch "Hoffnung fließt", ist Canettis Darstellung des
Bildhauers Fritz Wotruba, den er als die "wildeste Figur in (s)einem
Leben" (A 106) bezeichnet, als einen mörderischen Panther.
Canetti schildert einen Besuch im Atelier.
"Als
ich das erstemal hinkam, war er mit einer liegenden weiblichen Figur
beschäftigt. Er schlug hart zu und machte es deutlich, wie sehr es ihm
auf die Härte des Steins ankam; plötzlich sprang
er von einer Stelle der Figur zu einer anderen, die weit davon ablag,
und setzte den Meißel mit neuer Wut an. Es war klar, wie sehr er mit den
Händen arbeitete, wieviel von ihnen abhing, trotzdem hatte man den
Eindruck, dass er sich in den Stein beiße. Ein schwarzer Panther, so kam er mir vor, ein Panther, der sich von Stein nährte. Er riss am Stein und verbiss sich in ihn. (... ) Damals ... kamen diese Sprünge von oben, vielleicht musste ich darum an einen Panther denken, der von einem Baum auf sein Opfer herunterspringt. Ich hatte den Gedanken, dass er sein Opfer zerfleische - aber ein Zerfleischen, das in Granit vor sich geht, was ist das für ein Zerfleischen? (A 107).
Der
Darstellung des ersten Eindrucks folgt - wie wir es auch bei der
Schilderung der Vorlesung bei Karl Kraus gesehen haben - Canettis
Deutung und "Erkenntnis":
"Es war eine blutigernste Tätigkeit, die in Stein vor sich ging. Ich begriff, dass er sich darstellte, wie er (Wotruba) wirklich war. Seine Natur war so stark, dass
er sich das Schwerste ausgesucht hatte. Härte und Schwere fielen für
ihn zusammen. Wenn er plötzlich wegsprang, war es, als erwarte er, dass
der Stein zurückschlage, und käme dem zuvor. Es war ein Mord, den er
einem forführte. Es dauerte lange, bis ich erkannte, daß er morden musste" (A 107).
Dies
ist nun ein vollkommenes Beispiel für Canettis
prähistorisch-physiognomische Methode der Menschen-Erkenntnis, doppelt
wertvoll, da es sich um die Darstellung eines Menschen handelt, den
Canetti außerordentlich geschätzt hat, so dass
der vorschnelle Einwand, es handele sich hier um eine "Reduktion" vom
Humanen ins Animalische in satirischer, angreifender Absicht, sich
erübrigt. Der Ernst, mit dem Canetti aus dem Bildhauer Fritz Wortuba den
"Panther" und Mörder herausarbeitet, ist in der ganzen Autobiographie
sonst nur noch erreicht in der - andersartigen - Idealisierung Dr.
Sonnes, des "Weisen"34. Fritz Wotruba ist das
wilde, mörderische Tier, das, ohne sich zu "zähmen", den symbolischen
Gegenstand gefunden hat, an dem es Tier bleiben kann, ohne zu töten: das
Material zu einer vollständigen Selbstdarstellung.
Die
Bedingung für eine solche völlige Verausgabung des "Tierischen" im
harten Material der Kunst ist die Integrität der Person - Canetti
betont, daß Wotruba einen "furchtbaren Ernst der Worte" (A 108) hatte,
dass er einer der wenigen Menschen sei, bei dem Worte galten.
"Es
ging um zwei Dinge bei ihm, und um diese zwei allein: die Macht des
Steins und die Macht der Worte, auf jeden Fall also um Macht, aber in
einer so ungewöhnlichen Verbindung ihrer Elemente, dass man es hinnahm wie eine Naturgewalt und daran so wenig aussetzte wie an einem Gewitter" (A 109).
Der Hund seiner Zeit
Zum Schluss soll noch von einem Tierbild die Rede sein, das Canetti nicht zur Charakterisierung
einer Person benutzt hat - wenn es auch in einer Geburtstagsrede
verwendet worden ist, der zum 50. Hermann Brochs im Jahre 1936 -,
sondern zur Verdeutlichung einer Funktion, der des Dichters nämlich, den
Canetti zum"Hund seiner Zeit" erklärt:
"Der
wahre Dichter aber, wie wir ihn meinen, ist seiner Zeit verfallen, ihr
leibeigen und hörig, ihr niedrigster Knecht. Er ist mit einer Kette kurz
und unzerreißbar an sie gefesselt,. . .: er ist der Hund seiner Zeit.
Er läuft über ihre Gründe hin, bleibt hier stehen und dort; willkürlich
scheinbar, doch unermüdlich, für Pfiffe von oben empfänglich, nur nicht
immer, leicht aufzuhetzen, schwerer zurückzurufen, von einer
unerklärlichen Lasterhaftigkeit getrieben; ja, in alles steckt er seine
feuchte Schnauze, nichts wird ausgelassen, er kehrt auch zurück, er
beginnt von neuem, er ist unersättlich; im übrigen schläft und frisst
er, aber nicht das unterscheidet ihn von den anderen Wesen, was ihn
unterscheidet, ist die unheimliche Beharrlichkeit in seinem Laster (...
). Es ist immer unverkennbar, heftig und primitiv. Es drückt sich im
Gestaltlichen und Physiognomischen deutlich aus. Der Dichter, der sich
von ihm besessen sein lässt, verdankt ihn das Wesentliche seiner Erfahrung" (GdW 13).
Es erstaunt, dass
Canetti vom "Dichter" dasselbe verlangt wie von seinen eigenen Roman-
und Dramenfiguren: feste Prägnanz des Umrisses, Einseitigkeit des
Charakters, "deutlich und gewaltig" (A 121) soll er sein, primitiv und
eindeutig identifizierbar. Doch stellt Canetti noch andere Grundforderungen auf: die, "dass er gegen seine Zeit steht" (GdW 15) und die nach Universalität. Es sind also drei Forderungen, und sie stehen untereinander in einem schmerzhaften Gegensatz.
"Denn
keineswegs ist der Dichter ein Held, der seine Zeit zu bewältigen und
sich untertan zu machen hätte. Im Gegenteil, wir sahen, dass
er ihr verfallen ist, ihr niedrigster Knecht, ihr Hund; und dieser
selbe Hund, der ein Leben lang seiner Schnauze nachläuft, Genießer und
willenloses Opfer, Lüstling und genossene Beute zugleich, dieses selbe
Geschöpf soll in einem Atem gegen das alles sein, sich gegen sich selbst
und sein Laster stellen, ohne sich je davon befreien zu dürfen, weiter
machen und empört sein und obendrein um seinen eigenen Zwiespalt wissen!
Es ist eine grausame Forderung, wirklich, und es ist eine radikale
Forderung; sie ist so grausam und radikal wie der Tod selbst" (GdW 16).
Vom
wahren Dichter wird also beides verlangt: die lasterhafte Verfallenheit
an seine Zeit, eine Gier, aufzunehmen und die Welt in seiner Einseitigkeit zu interpretieren, und der Widerstand gegen sie und gegen die eigene, hungrige Lust und Treue35",
ein Kampf um Distanzierung und Erkenntnis. Gelingen könnte es nur dem,
der sich hineinverwandeln kann in Menschen aller Kulturen und in alle
lebende Kreatur, ohne sich ganz in sie zu verlieren. Die "Hüter der Verwandlung" "sollten imstande sein, zu jedem zu
werden, auch zum Kleinsten, zum Naivsten, zum Ohnmächtigsten" (GdW
286). Man ist ersucht zu ergänzen: "auch zum Größten, zum
Raffiniertesten, zum Wildesten und Mächtigsten"; denn das unterscheidet
den Künstler von anderen, auf Macht versessenen Handelnden: dass er alle Kräfte aus sich entbinden kann, ohne auf den Tod zu spekulieren, ohne zum Überlebenden und realen Machthaber zu werden.
Für andere, die Nicht-Dichter und Nicht-Künstler, hat Georges Kien eine Vision parat:
"Tiere
treiben ihre Neigungen auf die Spitze und brechen sie ihnen dann ab. Am
meisten lieben sie den häufigen Wechsel ihrer Geschwindigkeiten. Sie
fressen sich satt und lieben sich matt. Seien wir Tiere!" (B 371)
ANMERKUNGEN
Siglen der Werke Elias Canettis, aus denen zitiert wurde:
A = Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. München/Wien 1985
B = Elias Canetti: Die Blendung. Frankfurt a.M. 1979
D = Elias Canetti: Dramen. Hochzeit. Komödie der Eitelkeit. Die Befristeten. Frankfurt a.M. 1981
F = Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. Frankfurt a.M. 1981
GdW = Elias Canetti: Das Gewissen der Worte.Essays. Frankfurt a.M. 1982
MM = Elias Canetti: Masse und Macht. Düsseldorf 1978
PdM = Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942 - 1972. Frankfurt a.M. 1981
S = Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch. Frankfurt a.M.1984
gZ = Elias Canetti: Die gerettete Zunge. München /Wien 1977
1)
Elias Canetti/Manfred Durzak:"Akustische Maske und Maskensprung."In: Zu
Elias Canetti, hg, v. Manfred Durzak.Stuttgart 1983, S. 17-30
2)
ebd., S. 22. Es handelt sich hier um zwei Schallplatten, die zu dem
Buch gehören: Julian Huxley/Ludwig Koch, Animal Language, erschienen
1938 in London, Verlag Country Life Ltd. Canetti hat es erst 1940 in der
Emigration, also lange nach der Entstehung von "Hochzeit"
und "Komödie der Eitelkeit" kennengelernt (wie er mir schrieb); leider
ist es ihm mitsamt den Platten auf einer seiner Reisen verlorengegangen,
und antiquarisch hat er's nicht mehr auftreiben können. Über einen
Hinweis, wo es zu bekommen wäre, würde ich mich freuen!
3) Canetti/Durzak, a.a.O., S. 22
4) ebd., S. 17 f.
5)
Zu dieser, die strukturale Linguistik begründenden Unterscheidung vgl.
Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft,
Berlin 2.1967, S. 9 ff.
6) vgl. J.W.Goethe, Faust II, Akt I, Szene "Finstere Galerie"
7)
Die Tod-Feindschaft ist Canettis Lebens-Thema; dafür steht sein
Gesamtwerk. "Manchmal glaube ich, sobald ich den Tod anerkenne, wird
sich die Welt in Nichts auflösen" (PdM 49)
8) Gerald Stieg, "Betrachtungen zu Elias Canettis Autobiographie". In: Durzak (Hg.), a.a.O., S. 164 ff.
9) Erwin Chargaff: Das Feuer des Heraklit. Stuttgart 2.1980
10) F. de Saussure, a.a.O., S. 76 ff.
vgl. Jaques Lacan, Ecrits, Paris 1966, S. 502
12) Vgl. F. de Saussure, a.a.O., S. 79 ff.
13)
Einen solchen Vorwurf hat z.B. Ernst Fischer in seinen "Bemerkungen zu
Elias Canettis 'Masse und Macht' erhoben (Literatur und Kritik 1,(1966),
H.7 S. 13, vgl. Anm. 21
14)
Elias Canetti/Horst Bienek: "Die Wirklichkeit wie mit Scheinwerfern von
außen her ableuchten. Ein Gespräch". In. Durzak (Hg.)a.a.O. S. 11
15) ebd.
15
a) Vgl. Jean Baudrillard: "Die fatalen Strategien", München 1985. Hier
finden sich Canetti-Zitate und -Interpretationen an zentralen Stellen
(S. 15 ff, 153, 169, 176)
16) Canetti liest: "Hochzeit", "Komödie der Eitelkeit" und "Die Befristeten". München 1981
17) Canetti/Durzak, a.a.O., S. 23 f.
18) ebd., S. 23
19) Marcel Reich-Ranicki: Der Triumph des Elias Canetti. In: FAZ vom 16. August 1980
20)
Jan Papiór: "Die Konstanz der 'rasenden Elektroden'. Zu Elias Canettis
Anthropologie literarischer Figuren". In: Stefan H. Kaszynski (Hg.):
Elias Canettis Anthropologie und Poetik. München/Poznan 1984, S. 71
21)
Es hat hierzu eine Kontroverse gegeben zwischen Ernst Fischer (vgl.
Anm. 13) und Wolfgang Hädecke (Literatur und Kritik 2(1967), S. 599-610
22) Vgl. Heinz Beckmann, "Braunschweiger Nachspiel". Rheinischer Merkur 26.11.1965
23)
Manfred Durzak: "Elias Canettis Weg ins Exil. Vom Dialektstück zur
philosophischen Parabel". In: Literatur und Kritik XI, 1979, S. 466
24) Theodor W. Adorno: Brief an das Staatstheater Braunschweig. In:Zeugnissammlung Staatstheater Braunschweig, S. 1
25) Edgar Piel: Elias Canetti. München 1984, S. 45
26) Dazu Hans Feth: Elias Canettis Dramen. Frankfurt a.M. 1980, S. 105 f.
27) Vgl. PdM 97
28) Hans Feth, a.a.O., S. 118
29) Dagmar Barnouw: Elias Canetti, Stuttgart 1979
30) Elias Canetti: "Der Gegen-Satz zur 'Hochzeit'". Schauspielhaus Zürich, Spielzeit 1969/70, H.4; Zit. In: Hans Feth, a.a.O., S. 61
31) ebd.
32) Erich Fried: "Einleitung" zu. Elias Canetti. Welt im Kopf. Graz und Wien 1961, S. 15; zit. In: Dagmar Barnouw, a.a.O., s. 30
33) GdW 286
34 Im Teil 2 des "Augenspiel"
35)
In seinem Aufsatz "Gedanken zu Elias Canetti" (in: Literatur und Kritik
VII/1972, S. 280) spricht W.G.Sebald in bezug auf den Dichter als dem
"Hund seiner Zeit" von der "Schwierigkeit eines zwischen Angst und Treue
zerrissenen Lebens".
Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in der "Sprache im technischen Zeitalter" 94 (1985)
weitere Arbeiten zur Literatur von Harry Timmermann
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