"Ein anderes Mal wollte ich über einen Morast setzen, der mir anfänglich nicht so breit vorkam, als ich ihn fand, da ich mitten im Sprunge war. Schwebend in der Luft, wendete ich mich daher wieder um, wo ich hergekommen war, um einen größeren Anlauf zu nehmen. Gleichwohl sprang ich auch zum zweiten Male noch zu kurz, und fiel nicht weit vom anderen Ufer bis an den Hals in den Morast. Hier hätte ich unfehlbar umkommen müssen, wenn nicht die Stärke meines eigenen Armes mich an meinem eigenen Haarzopfe, samt dem Pferde, welches ich fest zwischen die Knie schloß, wieder herausgezogen hätte."
Dies ist die wohl bekannteste Episode aus dem Buch: "Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande. Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt". Es erschien anonym 1786 bei Dieterich in Göttigen und wurde schnell eines der wenigen Volksbücher Deutschlands. Erst 1798, vier Jahre nach dessen Tode in gänzlicher Armut, wurde der Verfasser bekannt: es war der Dichter Gottfried August Bürger. Eine englische Vorlage hatte er benutzt, die ihrerseits eine Übersetzung von schon 1781 deutsch erschienenen Anekdoten war, und viele eigene Geschichten hinzugefügt - darunter die sprichwörtlich gewordene vom sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehenden Reiter.
Dies muß ein starkes Wunschbild des Verfassers gewesen sein, der, gerade achtunddreißigjährig, sich tief im Elend und am Ende seiner Kräfte fühlte. Anfang des Jahres war seine geliebte Molly nach nur sechsmonatiger Ehe im Kindbett gestorben - die Frau, die er so lange, während seiner zehnjährigen Ehe mit ihrer Schwester Dorette, begehrt und, ein Jahr nach deren Tod, endlich geheiratet hatte. An seinen Freund Boie schrieb der Unglückliche:
"Ich bin ein armer unheilbarer Mensch bisher gewesen; ich bin es noch immerfort, und werde es bleiben bis in mein Grab neben der Unvergeßlichen; ein armer an Kraft, Mut und Tätigkeit gelähmter Mensch. ".2
Kraft, Mut, Tätigkeit: das sind die Parolen, unter denen Bürgers Generation in den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts angetreten war, die deutsche Dichtung zu revolutionieren. Es war die Epoche des nach einem Drama Friedrich Maximilian Klingers so genannten "Sturm und Drang", die Zeit der wilden "Kraftgenies" um den jungen Goethe in Straßburg und der etwas zahmeren, empfindsamen Klopstockverehrer im "Göttinger Hainbund". Ihnen gemeinsam war der künstlerische und gesellschaftliche Kampf gegen die erstarrten Klassizismus und Rationalismus der Aufklärung, aber auch gegen die weltbürgerliche, französisch inspirierte Gesellschaftskultur des Rokoko. Was diese jungen Dichter dagegensetzten und recht eigentlich durch ihre Poesie erst entdeckten, war das, was dann, in allen Spielarten von der zartesten inneren Gewissenserregung über die ästhetische Sensibilität bis zur triebhaften Leidenschaftlichkeit den deutschen Namen "Gefühl" bekommen sollte.
l769 zog Heinrich Christian Boie nach Göttingen und gab dort zusammen mit Friedrich Wilhelm Gotter - nach französischem Vorbild - einen deutschen Musenalmanach heraus. Für diese Zeitschrift versammelte er junge Dichter um sich, die sich im Enthusiasmus für Klopstocks Oden, in der Schwärmerei für Freundschaft, Tugend und Tyrannenhaß sowie in der Gegnerschaft zu der "weltmännischen Sittenlosigkeit" etwa eines Wieland einig waren. Am 12. September 1772 wurde ein regelrechter Freundschaftsbund der Dichter gegründet; die meisten waren Studenten der Göttinger Universität. Neben Boie waren es der später vor allem als Homerübersetzer bekanntgewordene Johann Heinrich Voß, der zarte und früh verstorbene Ludwig Heinrich Christian Hölty - Dichter volkstümlich schlichter Weisen wie "Üb' immer Treu und Redlichkeit" - der erst von Karl Kraus wiederentdeckte Leopold Friedrich Günther von Goeckingk, Johann Martin Miller, der Autor des vor Goethes "Werther" erfolgreichsten sentimentalischen Romans "Siegwart, eine Klostergeschichte" und einige andere. Goethes Freunde, die Brüder Christian und Friedrich Leopold von Stolberg, kamen später hinzu, und der Dramatiker Johann Anton Leisewitz; Matthias Claudius stand dem Kreis nahe, der politische Lyriker Christian Friedrich Daniel Schubart und Gottfried August Bürger.
Dieser studierte seit 1768 Jura in Göttingen und wollte, was er schon seit seinem vorherigen dreijährigen Theologiestudium in Halle wußte, Dichter werden. In Halle hatte er sich mit Christian Adolph Klotz, Professor der Philosophie und Beredsamkeit, herumgetrieben, der wegen seines, wie es heißt, "leichtfertigen Lebenswandels" keinen guten Ruf hatte. In Göttingen nun, wo es den Dichterbund gab und eine "Deutsche Gesellschaft", wollte Bürger sich einen besseren, solideren Ruf erwerben. Entgegen den Gepflogenheiten der literarischen und wissenschaftlichen Protektion wartete er nicht ab, bis ihn jemand vorschlug, sondern bewarb sich selbst um eine Aufnahme in die "Deutsche Gesellschaft" mit seiner Probeschrift: "Etwas über die deutsche Übersetzung des Homer".
Mit diesem Aufsatz griff er in eine zu Beginn der siebziger Jahre entfachte brisante öffentliche Diskussion ein, die sich bald auf die Frage zuspitzte, ob die jambische oder die hexametrische Version im Deutschen dem Geist Homers näherkäme. Hexametrische Übersetzungen, die klassizistisch modernisierten und verschönerten, Homer also "idealisierten" und dem gebildeten Geschmack anglichen, lagen mittlerweile in England und Frankreich vor. Bürger dagegen wollte einen Homer für alle Stände, ein "populärer" Homer, "der nach Altertum schmeckt",und den Leser vergessen ließe, daß er eine Übersetzung lese, und ihn in den "süßen Wahn geraten lasse, daß Homer ein alter Deutscher gewesen und seine Ilias deutsch gesungen habe." Für dieses wirkungsästhetische Ziel forderte Bürger den freieren Umgang mit der Sprache bis hin zu kühnen Neubildungen und vor allem das dem Deutschen natürlichere jambische Versmaß. Bürgers eigene sprachliche Neuschöpfungen belegen am besten, wie er sich die innere Verbindung von Volkstümlichkeit und Genialität dachte eine keineswegs selbstverständliche Verbindung, zumal "Genialität" oft mit schrankenlosem Subjektivismus verwechselt wurde. Bürger schuf etwa die Wörter: Wagemut, Ackerflur, querfeldein, Friedensbund, Gemeingut, Lausejunge, sattelfest, Volksgewimmel und viele andere.
Bürger erreichte mit seinem Übersetzungsvorschlag, was er wollte: die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt, etwa Wielands und Goethes, der ihn begeistert um eine Fortsetzung der Arbeit bat und ein ansehnliches Honorar in Aussicht stellte.
Doch inzwischen hatte Bürger berufliche Verpflichtungen, die ihn an einer konsequenten Weiterarbeit hinderten; es fehlten ihm Muße und Freiraum. Er hatte gehofft, beides zu finden, ein gesichertes Auskommen und Zeit, als er durch Boies Vermittlung als Amtmann die Gerichtshalterstelle zu Alten-Gleichen mit Sitz in Benniehausen, einem Nachbardorf von Gelliehausen bei Göttingen, bekam. Doch er sollte sich täuschen: das Amt war in einem desolaten Zustand, er wurde bald das Opfer von Familienintrigen, und finanziell brachte es weniger ein, als er angenommen hatte. So klagte er seinem Freund Gleim:
"Ich bin Amtmann über ein ganz artiges Gericht, das Gericht Altengleichen geworden. Aber mit was für Mühe? das weiß ich selbst nicht alles mehr zu erzählen. Kurz, es mag schwerlich je einem polnischen Könige saurer geworden sein, sich seines Zepters, als mir, mich dieses Richterstäbchens zu bemächtigen. Indessen meine Not, worin ich zu Göttingen immer tiefer sank, nötigte mich, mein .Äußerstes zu wagen, mich los zu arbeiten. - Mein Gericht hat 6 Dörfer und begreift Ober- und Untergerichtsbarkeit im we.itläufigsten Verstande. Meine Einkünfte kann ich etwa bis ins fünfte Hundert rechnen. Ich wohne hier in Gelliehausen gerade unter den alten Gleichen zwischen Göttingen und Duderstadt, ohnstreitig in der angenehmsten Gegend auf zwanzig Meilen in der Runde. Von den Menschen um und neben wir, außer von etwa zwei oder drei edlen Seelen, läßt sich nicht viel Rühmliches sagen. Dieses wäre ohngefähr das Gute von meiner itzigen Lage. Das Schlimme, wein Allerliebster, ist wahrlich - auch sehr schlimm. - alte aufgesummte Arbeit genug, und beinahe allzu viel! - Totale Unordnung, wo ich den Blick hinwende. Seit vielen Jahren unbefriedigte Sollizitanten, die mich wie Mücken umschwärmen! Eine Familie von Gerichtsherrn, die aus 7 Stimmen und Teilhabern an dem Gericht besteht, wovon jeder sein eigenes Interesse hat, welchen insgesamt es der hiesige Beamte nie recht machen kann, wo also der Fehde und des Kujonierens von einer oder der anderen Seite nie ein Ende sein wird! - Verwilderte Untertanen etc. etcetc.! Das ist mein Los geliebter Freund! das ist mein Los! Ich weiß nicht, ob ich es lange ertragen kann. f... 1. Mein kleines poetisches Talent, wenn daran etwas gelegen ist, verwelkt bei meiner jetzigen Lage fast völlig. Ich habe, seitdem ich hier bin, nichts, schlechterdings nichts, als neulich in einigen glücklichen Stunden einen Lobgesang gemacht, den ich hier mit einschließen will. Mein Homer, mein armer Homer! liegt da bestaubt!
Hier kann ich ihn mit keiner Zeile fortsetzen. Meine andernteils projektierten, teils angefangenen und halb vollendeten Opera, die herrlichen Opera! Sie liegen zertrümmert unter dem andern altem Papier in einem großen Kasten, auf dem Boden unterm Dache."3
Bürger unternimmt einige Ausbruchsversuche aus diesem Sumpf der Amtspflichten, der Intrigen und der Monotonie: er spielt Lotto und verschuldet sich weiter, er plant eine "Subskriptionsanstalt", eine Art Autorenverlag mit eigener Druckerei und einem Vertrieb unter Autoranleitung, er engagiert sich gegen das Raubdruckwesen, dann wieder plant er, in Hannover die Leitung eines Theaters zu übernehmen, oder er versucht wenigstens, eine Hofratsstelle an einem kleinen Hof am Rhein oder eine Kreisamtsmannstelle in Obersachsen zu bekommen. öfter steht ihm dabei dasjenige im Wege, auf das er doch am meisten stolz ist: sein Ruf als Übersetzer des Homer und als Dichter. Ein demütiger Bittbrief Bürgers an Friedrich II. läßt diesen den Großkanzler von Carmer beauftragen, sich wegen einer geeigneten Stelle an den Staatsminister Freiherrn von Zedlitz in dessen Eigenschaft als Ober-Curator der Universitäten und Schulen zu wenden, und dieser schreibt an Carmer:
"Wenn auch gleich der jetzige Chur-Hannoversche Justiz-Amtmann Bürger durch seine von Zeit zu Zeit herausgegebenen übersetzten Stücke des Homer eine nicht gemeine Kenntnis der Alten bewiesen und auch als Dichter sich bekanntlich Ruhm erworben hat, so ist er doch, wie das der Fall der heutigen mit dem Geniewesen sich auszeichnenden Schöngeister ist, zum Erzieher und Jugendlehrer nicht zu gebrauchen. - Überhaupt ist an Leuten, die die alten Sprachen verstehen, eben kein Mangel, und da ich besonders darauf bedacht nehme, alle Gelegenheit aus dem Weg zu räumen, daß die Jugend keinen frühen Hang zu der alle Seelenkraft und alle zu Geschäften erforderliche Tätigkeit untergrabenden Poeterei bekomme, so kann ich mit gutem Gewissen den Bürger, so sehr ich ihn auch schätze, in meinem Department nicht versorgen."4
In seiner Verzweiflung wandte sich Bürger 1782 an den Geheimrat und Leiter der Finanzkammer in Weimar Goethe persönlich, mit dem er seit 1774 korrespondierte; dieser schrieb ihm nach einem halben Jahr und Ogab ihm zu verstehen, daß ihm nicht zu helfen sei.
"Die Unzufriedenheit mit Ihrem Zustande, die Sie mir zu erkennen geben, scheint mir so sehr aus dem Verhältnis Ihres Innersten,Ihrer Talente, Begriffe und Wünsche, zu dem Zustande unserer bürgerlichen Verfassung, zu liegen, daß ich nicht glaube, es werde Sie die Verändereung das Ortes, außer einem geringen tlehr oder Weniger, jemals befriedigen können. t... ]. Tüchtige Kinder dieser eingeschränkten Erde, denen im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot schmecken kann, sind allein gebaut, sich,darin leidlich zu befinden, und nach ihren Fähigkeiten und Tugenden das Gute und Ordentliche zu wirken.
Seinen literarischen Ruf verdankt Bürger seinen Veröffentlichungen in Boies "Göttinger Musenalmanach" ab 1771, besonders aber einem Gedicht, das dort 1773 erschien und eine ähnliche Begeisterung auslöste wie wenige Monate zuvor Goethes "Götz von Berlichingen": die "Lenore". Was dort für das Drama erreicht war, schien hier für die Ballade geleistet zu sein: ein Werk mit wahrhaft populärer Tendenz, dramatischem Inhalt und rebellischer Gesinnung, alle ästhetischen Regeln mißachtend und dabei doch nicht so amateurhaft-zügelloe wie manches andere Werk dieser stürmischen Ara. Bürger arbeitet bereits an dieser Ballade, als er Herders "Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker" in die Hände bekommt, und er schreibt begeistert an seinen Freund:
"0 Boie, Boie, welche Wonne! als ich fand, daß ein Mann wie Herder, eben von der Lyrik des Volks und mithin der Natur deutlicher und bestimmter lehrte, was ich dunkel davon schon längst gedacht und empfunden hatte. Ich denke, Lenore soll Herders Lehre einigermaßen entsprechen."6
Später, in der Vorrede zu seinen "Gedichten" von 1778, präzisiert Bürger selbst, was er unter "Natur" und "Volkstümlichkeit" der Dichtung versteht: es geht ihm,nicht etwa um die unteren Schichten der Gesellschaft, die er damit erreichen will, nicht um den "Pöbel", der ja auch weder lesen noch schreiben kann, sondern um den Beifall der "ansehlichen Klassen", des aufkommenden Bildungsbürgertums also. Das schließt nicht aus, daß viele Gedichte sich für die Rechte der Unterdrückten gegenüber den Regenten und Obrigkeiten einsetzen; angesprochen wird jedoch in erster Linie das gebildete Leserpublikum.
"Popularität eines poetischen Werkes ist das Siegel derVollkommnenheit ", 7
bestimmt Bürger in der Vorrede zur endgültigen Ausgabe seiner Gedichte 1789. Daß die geforderte "Volkstümlichkeit" und "Natürlichkeit", Lebendigkeit, Dynamik, dichterischer Schwung, Suggestion und Leidenschaft dabei nicht Resultate eines bloß emotionalen, unüberlegten, spontanen Dichtungsgeschehens sein können, sondern Ergebnisse von akribischer Kleinarbeit, von Kalkül und Raffinesse, hat Bürger immer wieder betont: es geht nicht um spontanes Dichten, sondern um das Dichten von Spontanäiät, darum, den Eindruck der Volkstümlichkeit zu erzielen - einen Eindruck, der natürlich qualitativ und nicht quantitativ, als Beifall der bloßen Menge, verstanden sein will. Auch dafür ist Bürgers Lenore, die als Begründung und Muster der ernsten Ballade gilt, ein eindrucksvolles Beispiel - und wenn manche Stellen heute unfreiwillig komisch wirken, so kann dies als ein Beleg dafür gelten, daß das, was einer Zeit als gelungen hergestellte Echtheit, Unmittelbarkeit und wahre Popularität galt, von der kulturellen Entwicklung eingeholt werden kann und irgendwann das Künstliche an der Kunst der Natürlichkeit hervortritt. Nun also, in voller Länge: Gottfried August Bürgers Meisterballade
Mit dieser Ballade und dann mit der Ausgabe seiner gesammelten Gedichte 1778 erregte Bürger bei konventionellen Kritikern Anstoß und hatte großen Erfolg bei denen, die für den neuen Ton offene Ohren hatten wie die Mitgliedern des Göttinger Hain, der jungen Goethe, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Hardenberg, vor allem aber der damalige Kritikerpapst Christioph Martin Wieland. Der schrieb begeistert:
"Wer, in kurzem, wird nicht Bürgers Gedichte auswendig wissen? In welchem Hause, in welchem Winkel Teutschlands werden sie nicht gesungen werden? - Ich wenigstens kenne in keiner Sprache etwas Vollkommeneres, in dieser Art; nichts das dem Kenner und Nichtkenner, dem Volk und der Klerisei, jedem nach seiner Empfänglichkeit, so gleich angemessen, genießbar, lieb und wert sein müsse als Bürgers Gedichte. (... ) Wahre Volkpoesie - und doch alles, was nicht bloß Ausguß der burlesk-komischen Laune eines Augenblicks ist, so schön, so poliert, so vollendet!"9
Reine Ästheten, die sich um nichts als die Schönheit und Vollendung des Ausdrucks bemühten, sind die Dichter dieser stürmischen Epoche natürlich nicht gewesen; wer in der literarischen Avantgarde der Zeit etwas gelten wollte, konnte die politische Lage dessen, was unter dem Begriff "Volk" gerade begann, in der Dichtung Geltung zu erlangen, nicht ganz vorbeigehen. Von einer revolutionären Situation konnte indes in den zersplitterten deutsche Teilstaaten, unter denen ein großes kuturelles, ökonomisches und soziales Gefälle herrschte, nicht die Rede sein - im Gegensatz zu Frankreich etwa, wo sich ein deutlicher Interessengegensatz zwischen dem Hof mit Adel und Geistlichkeit und den Bürgern herausbildete, der dann 1789 eskalierte. Die dreihundert kleinen Höfchen Deutschlands wiesen - vom verhältnismäßig liberal regierten Preußen bis zu den fast noch mittelalterlich anmutenden Territorialstaaten im Süden mit ihren despotischen Regierungen - zu große Unterschiede auf, als daß ernstlich der Ruf nach der völligen Abschaffung des Fürstenregiments hätte laut werden können- Politische Dichtung richtete sich gegen die Willkürherrschaft einzelner Fürsten, nicht gegen das Fürstentum als solches. Das war gefährlich genug, wie das Schicksal Schubarts, des Dichters der "Fürstengruft", zeigt, der auf Befehl des Herzogs Karl Eugen von Württemberg 1777 verhaftet und ohne Gerichtsurteil mehr als zehn Jahre gefangengehalten wurde. Oft gerug war der "Tyrannenhaß" jedoch aues-nichts als kraftgenialische Gestikulation, abstraktes Freiheitspathos, um gleichgesinnte Freunde zu beeindrucken. Bekannt ist die von Goethe berichtete Anekdote, wie seine Mutter den "poetischen Tyrannenhaß" der Brüder Stolberg mit altem Wein zu stillen wußte.
Im Gegensatz zu den Frankfurter und Leipziger Literaten dieser
Zeit kam Bürger der tägliche Umgang mit den Bauern seines
Amtsbezirkes zustatten, deren Rechte er oft besser zu wahren wußte
als die Interessen der feudalaristokratischen Junkerschicht, mit
der er in Altengleichen zu tun hatte. Sein bekanntestes politisches
Gedicht "Der Bauer an seinen Durchlauchtigen Tyrannen"
stellt denn auch eine verhältnismäßig konkrete
soziale Anklage dar, die, vom Verhalten des Fürsten ausgehend,
dessen Herrschaftslegitimation "von Gottes Gnaden" eindringlich
und direkt infrage stellt.
So also klingt die Bürgers Sprache der Leidenschaft, dem Bauernstand in den Mund gelegt, als sarkastische und wütende politische Anklage! Georg Büchner und Heinrich Heine sehen Bürger wegen dieses und ein paar anderer Gedichte als einen der ihren an.
Hauptgegenstand der neuen Ausdruckslyrik ist der soziale Kampf
gegen die drückenden feudalen Verhältnisse jedoch nicht.
Den jungen Dichtern geht es in erster Linie um ein Zur-Sprache-Bringen
ihrer selbst, ihrer Individualität, ihres Gefühls. Zum
erstenmal in der europäischen Geistesgeschichte wird nicht
der nach poetologisch festgelegten Regeln passendere, bessere,
schönere Ausdruck gesucht, sondern der echte, wahre, lebendige.
Die sogenannte Hirtendichtung oder "Anakreontik", benannt
nach einem griechischen Dichter, stellte Wein, Weib und Gesang
in den Mittelpunkt. An Bürgers Entwicklung ist besonders
gut abzulesen, wie sich diese Dichtung der Lust allmählich
in eine Dichtung der Leidenschaft wandelte. Am Anfang stehen rokokohafte
Tändeleien mit niedlichen Schätermädchen, genannt
"Romanzchen" oder "Stutzertändelei",
am Ende die Gedichte an Molly, der wahrhaft Geliebten. Einen interessanten
Übergang bilden Gedichte, die noch in der konventionellen
Sprache der Lust verfaßt sind, aber bereits die individuelle
Leidenschaft zum Thema haben, wie etwa das folgende, das die fast
schon starre Form des Sonetts benutzt, um das Recht auf vollendeten
sinnlichen Genuß einzuklagen.
Der Sturm-und-Drang ist in die Geschichte der Lyrik als diejenige Epoche eingegangen, in der die sogenannte "Erlebnisdichtung" entstand: man machte nicht mehr nur für bestimmte gesellige Gelegenheiten schöne Verse nach anerkannten Regeln, um seinen Freunden oder dem literarischen Publikum zu gefallen, man entdeckte den Drang, sein Innerstes nach außen zu bringen, sein Individuellstes mitzuteilen, als eigentliche Triebfeder der Poesie. Persönliche, echte, tiefgehende Erlebnisse werden zum Anlaß und zum Thema dieser Dichtung, die in der Form so nahe wie möglich an der ersten Erschütterung bleiben will und so den Eindruck des unmittelbaren Ausdrucks zu bewahren sucht. Für Bürger war Auguste Leonhart, die Schwester seiner Frau Dorette, das große Liebeseerlebnis seines Lebens als Begierde, Genuß und Verlust: sie wurde zur Molly seiner Gedichte. In Prosa schrieb er ihr:
"Wie brünstig ich dich im Geist umfange, läßt
sich mit Worten nicht beschreiben. Es ist ein Aufruhr aller Lebens-Geister
in mir, der, wenn er sich bisweilen legt, mich in solcher Ermattung
an Leib und Seele zurückläßt, daß ich schier
den letzten Odem zu ziehen meine. Oft mögte ich in der finstersten
Sturm- und regenvollsten Mitternacht aufspringen, dir zueilen,
mich in deinBette, in deine Arme, kurz in das ganze Meer der Wonne
stürzen und - sterben. Könnte ich dich mir damit erkaufen,
daß ich nackend und barfuß durch Dornen und Disteln,
über Felsen, Schnee und Eis die Erde umwanderte, o so würde
ich mich noch heute aufmachen, und dann, wenn ich endlich verblutet,
mit dem letzten Fünklein Lebenskraft, in deine Arme sänke,
und aus deinem liebevollen Busen Wollust und frisches Leben wiedersöge,
dennoch glauben, daß ich dich für ein Spottgeld erkauft
hätte -."12
In der "Elegie. Als Molly sich losreißen wollte" äußert sich die Qual der ungestillten Begierde in den Versen:
Heiter und glücklich dagegen klingt Bürgers "Liebeszauber"; im Gedicht "An die Menschengesichter" verteidigt er das Ausleben der Leidenschaft vor dem Gerede und der Neugier seiner Umgebung, und in "Untreue über alles" schildert er intime Liebesszenen:
"ich lauschte mit Molly tief zwischen dem Korn, Umduftet von blühendem Hagebutt-Dorn.
Wir hatten's so heimlich, so still und bequem, Und kosteten traulich von Diesem und Dem."14
Während in den wenigen Versen an seine Frau Dorette Leidenschaft
und Sinnlichkeit fehlen, läßt Bürger die ganze
Skala seiner Gefühle-in den Gedichten an Molly erklingen.
Die Intensität der Empfindung steigert sich bis zum Rausch
aller Sinne.
Kurz nach der Geburt einer Tochter stirbt am 9. Januar 1786 seine Molly, mit der Bürger ein halbes Jahr verheiratet war nach den zehn Jahren mit ihrer Schwester. Dem Freund Boie teilt Bürger seine Empfindungen in einem Brief mit:
"Wann wird der Schwarm von tausend und aber tausend Erinnerungen aufhören, meine Seele zu umflattern? Und wann wird jede derselben bis dahin ermatten, um nicht mehr, wie bisher, mein Herz auf das schmerzlichste zusammen zu krampfen, wenn ich gleich vor den Leuten nicht lauf dabei aufschreie? Ebenso tief als einst meine unendliche Liebe, eben so tief mußte sich nun mein unendlicher Schmerz in meine Seele graben. 0 wie könnte ich ihrer vergessen? Ach, ihrer, ihrer! der ich seit länger als zehn unglücklichen Jahren, voll Drang und Zwang, mit immer gleich heißer, durstender, verzehrender Sehnsucht nachseufzte? Ihrer, durch welche ich bin, alles, was ich bin und nicht bin! Ihrer, um welche die einst so gesunde Jugendblüte meines Leibes sowohl als Geistes vor der Zeit dahinwehte! Ihrer, die diese verwelkte Blüte endlich ganz wieder zu beleben versprach, die en4ich die Meinige, die Meinige! - ein Wort, ein Begriff von ganz unendlicher Kraft für mich! - die die Meinige endlich ward, mich gleichsam aus der Nacht der Toten zurückrief, und in einen lichten Freudenhimmel empor zu heben anfing! - Ach und wozu? Um so schnell, so auf einmal mir wieder zu entschwinden, mich mitten auf den Stufen des Hinaufgangs zum neuen besseren Leben fahren und noch tiefer in die vorige Nacht zurücksinken zu lassen! 0 Saie, ich liebte sie so unermeßlich, so unaussprechlich, daß die Liebe zu ihr nicht bloß der ganze und alleinige Inhalt meines Herzens, sondern gleichsam mein Herz selbst zu sein schien."16
Zu dieser Zeit ist Bürger bereits, vermittelt durch seinen Freund Georg Christoph Lichtenberg, Privatdozent in Göttingen; er hält Vorlesungen über Stilistik, Asthetik und Philosophie. Die meisten seiner Protessorenkollegen belächeln ihn als unkonventionellen, undiplomatischen, unakademischen Literaten, und die Hannoversche Regierung weigert sich, ihn fest anzustellen. So lebt er von Hörgeldern. Bürgers Ruf wird vollends ruiniert, als die ganze Stadt an einer romanhaften Affäre teilnimmt, in die er sich mit großen Glückserwartungen stürzt.
1789 erscheint in der Stuttgarter Wochenschrift "Der Beobachter"
anonym ein Gedicht der 20-jährigen Elise Hahn "An den
Dichter Bürger", in dem sie ihm nach der Lektüre
seiner im gleichen Jahr erschienenen "Gedichte" ihre
Liebe antrug.
Das Gedicht war, so gab das Mädchen später zu, als ein Spaß unter Freundinnen entstanden. Doch Bürger nahm es ernst und machte Ernst. Er bekam ihren Namen heraus, fuhr nach Stuttgart, heiratete sie - nicht ohne sie ausführlich über seine Erwartungen aufgeklärt zu haben, was ihre Pflichten als Gattin, Haushälterin und Stiefmutter dreier Kinder betraf, und nahm sie mit nach Göttingen. Dort entfaltete die aufblühende junge Frau sofort ein dermaßen abenteuerliches Liebesleben - besonders in der Zeit, während Bürger seine Vorlesungen hielt - daß diesem nach einem halben Jahr nichts blieb als @ Schmach und Scheidung. In der Universität und Stadt bespöttelt, außer Lichtenberg und dem Verleger Dieterich fast ohne vertraute Freunde, literarisch nach einer harschen Kritik Schillers wegen mangelnder Idealität seiner Poesie fallengelassen und hoch verschuldet, starb Bürger am 8. Juni 1794 im Alter von 46 Jahren.
Bürger hat seinen letzte Glücksversuch, die Ehe mit
Elise Hahn, vorbereitet mit einem langen Brief, dem er die Überschrift
gab: "Beichte eines Mannes, der ein edles Mädchen nicht
hintergehen möchte." Dieser Brief ist eine der ehrlichsten
und anrührendsten Selbstdarstellungen, die das an großen
Autobiographien reiche Jahrhundert hervorgebracht hat, ehrlich
noch in seiner nicht uneitlen Rhetorik und anrührend, da
es hier nicht nur um die Darstellung einer Lebensgeschichte geht,
sondern gleichzeitig um das Klären von Wünschen, Hoffnungen
und Erwartungen für dieses Leben. Hier zeigt sich am deutlichsten,
wie Bürger sich sah und wie er gesehen werden wollte; deshalb
soll die Beichte des Dichters an das Schwabenmädchen Elise
am Ende dieses Porträts stehen.
Besäße die lebhafte rasche Schwärmerin, deren Liebe schon durch ein paar Hauche meines Geistes und Herzens angefacht werden konnte, - besäße sie auch alles, was die kühnsten Ansprüche eines Mannes befriedigen möchte, Schönheit und .4nmuth, wie des Geistes, so des Leibes, Güte und Adel des Charakters, Feinheit der Sitten, Stand und Vermögen; hätte sie auch mit allen diesen Vollkommenheiten mein ganzes Wesen längst dergestalt bezaubert und gefesselt, daß sie nothwendig das Ziel meiner heißesten Wünsche seyn und bleiben müßte: so könnte, so durfte ich dennoch dieß Bekanntniß der heiligen Wahrheit nicht unterdrücken, - nein, ich durfte es nicht unterdrücken, wenn ich auch gleich im voraus wußte, daß sie mir dadurch zu meinem unaussprechlichen, bis ins Grab hinab dauernden Kummer, verloren ginge- Also gebeut mir der Richter, der Gesetzgeber, der Gott, den ich in meinem Busen trage, den ich nicht verleugnen kann, den ich verehren, dem ich, trotz aller widerstrebenden Heigungenpgehorchen muß, wenn ich nicht unmittelbar die grausamste aller Seelenstrafen, Verachtung und Verabscheuung meiner selbst, auf mich laden will.
Theures Mädchen! So sehr ich wünsche, daß Sie die Person seyn mögen, der es verliehen isst, den Nachmittag und Abend meines Lebens zu beseligen; die Person, welche nun noch auf Erden zu finden ich längst verzweifelte; so sehr ich wünschte, der einzige Mann Ihres Geistes. Ihres Herzens, Ihrer Sinne, und in allen diesen der Mann Ihrer höchsten irdischen Glückseligkeit zu seyn: eben so sehr drängt mich auch die Pflicht, Sie durch dieses getreue Bekenntniß von mir selbst zur strengsten Prüfung aller Ihrer Neigungen und Ansprüche erst aufzufordern, ehe der Enthusiasmus uns Beyde zu Schritten verleite, die uns in großes Unglück führen könnten. Ich will daher mein Inneres und Äußeres so schildern, daß, wo möglich, ich selbst hinfort mich nicht genauer kennen will, als Sie mich kennen sollen.
Was zuvörderst meinen Geist und mein Herz betrifft, so mögen Sie zwar glauben, beydes aus meinen öffentlichen Werken so hinlänglich zu kennen, um sich in Ansehung dieser Stücke volle Genüge für ihre Wünsche versprechen zu dürfen. Allein vielleicht könnten Sie dennoch wohl irren. Ich will zwar, ebenso unbefangen von Demuthsziererey, als von Dünkel, gern zugeben, daß Einiges unter meinen Werken befindlich seyn möge, das eines edlen Geistes und Herzens nicht unwürdig ist. Allein daraus dürfen Sie auf vollkommenen und unbefleckten Adel meiner Seele keinen Schluß machen. Es wäre sonst ebenso viel, als ob Sie von einigen schönen Blüthen auf gesunde und unverdorbene Schönheit und Vollkommenheit das Baumes, welcher sie trug, schließen wollten. Auch ein wurmstichiger, mehr als halb verrotterter Stamm mag, wenn er sonst nur ursprünglich guter Art ist, noch immer deren einige hervorzubringen. Nun fürchte ich sehr, daß Sie und jeder, der mich kennen lernt, trotz dem besten Vorurtheil, das er vorher für mich hegte, genöthiget seiyn werde, mich für einen solchen verdorbenen Stamm zu halten. Ungewitter und Stürme des Lebens haben hart in meinen Blüthen, Blättern und Zweigen gewüthet. 0, ich bin nicht derjenige, der ich vielleicht der Haturanlage seyn könnte, und auch wohl wirklich wäre, wenn mir im Frühlinge meines Lebens ein milder Himmel gelächelt hätte- Durch viele und langwierige Widerwärtigkeiten bin ich an Leib und Seele so verstimmt worden, daß ich oft in eine trübe melancholische Laune, und dabei in eine
Ohnmacht des Geistes versinke, die mich gewiß nicht empfehlen kann. Denn ich verliere alsdann allen Muth, alles Vertrauen auf mich selbst, und halte mich für kopfleer, für herzkalt, für wortarm, kurz, für einen höchst werthlosen Stümper. Ich denke, Jeder, der mich nur ansieht, spricht bei sich: "Es ist mit dem Menschen doch gar nichts anzufangen!" weil ich dies wirklich selbst glaube. Darob bin ich mir dann selbst gram; und wenn man sich selbst gram ist, so kann man unmöglich andern angenehm und liebenswürdig erscheinen. Da ich indessen ursprünglich gewiß mehr Anlage zum Frohmuth, als zum Trübsinn habe: so wäre ich wohl in den letzten Jahren in mein erstes Natur-Geleise zurück gelanget, wenn ich meine gefeierte Molly-Adanide behalten hätte. Denn in dem Besitz ihrer Person und Liebe fühlte ich mich sehr merklich wieder gedeihen, wie an Reichthum des Kopfes, so an Fülle, Wärme und Kraft des Herzens. Jene Laune belästigte mich damahls in weit geringerem Grade, und das Weib meines Herzens erfuhr davon, wie ich glaube, gar keine Beschwerde. Wodurch hätte ich aber nach ihrem Hinscheiden genesen sollen? - Liebe, aber ungemeine Liebe brächte vielleicht jetzt noch eine volle Wiedergeburt mit mir zustande. Sollte sie aber wohl möglich seyn, eine so gewaltige Liebe, die es der Mühe werth hielte, ein lange verstimmt gewesenes Instrument rein umzustimmen und mit neuen Saiten zu beziehen? Und würde nachher das Instrument ihre Mühen und Kosten vergüten? Ach, ich bin auch im Stande der Gesundheit des Leibes und der Seele nur ein gewöhnlicher Alltags-Mensch, wie sie zu Millionen unter Gottes Himmel herumlaufen! Ich erstaunen wie ein vernünftiges Publikum mich, um einiger guter Verse willen, für etwas besonderes halten könne.
Elise meynt, weil ich nicht übel schriebe, so wußte ich auch wohl artig zu sprechen. Ich bin ein erbärmlicher Sprecher. Meine Schrift fließt mühselig und langsam, in Prose und in Versen. Nur ein bißchen gesunde Beurtheilungskraft und Geschmack machen, daß es bisweilen leidlich wird, was ich schreibe. Mein mündlicher Vortrag muß daher vollends schlecht von Statten gehen. Die Gabe, geistreich, lebhaft und witzig im Umgange zu unterhalten, mag ich, vielleicht Oberhaupt nicht, oder doch nur in meinen glücklichsten, seltensten Stunden, und auch da nur für solche besitzen, die mich sehr lieb haben und grade an meiner Weise Gefallen finden. Manchen mag auch blos deswegen etwas als schön vorkommen, weil ich, der für etwas besonderes Gehaltene, es sage: ob es gleich etwas sehr armseliges ist. Ich könnte nun zwar wohl öfter und mehr mit manchem gesellschaftlichen Schwätzer und Spaßmacher wenigstens gleichen Schritt halten. Allein ich bin zu schüchtern und blöde, alle die leichte und blind gegriffene Münze auszuspenden, die gleichwohl, wie ich an andern täglich sehe, ohne Widerrede im gemeinen Handel und Wandel gilt. So oft ich mir auch selbst desfalls Muth einzusprechen suche, so tritt mir doch gemeiniglich das Gewissen in den Weg. .Aus Besorgniß durch Zucken oder Stocken die Unvollkommenheit meiner Waare zu verrathen, schweige ich lieber ganz stille. Darüber mag mich wohl schon mancher und manche für einen armen Schlucker gehalten und sich gewundert haben, wie ein so langweiliger Mensch doch so leidliche Gedichte gemacht haben könne. Nun, an echter vollwichtiger Goldmünze des Geistes bin ich auch in der Tat kein Krösus, wiewohl ich an gemeinem Klappergelde nicht eben ein Bettler bin.
Mein Character und meine Gesinnungen möchten zwar vielleicht noch etwas mehr werth sein, als meine Geistes-Talente. Dennoch fühle ich, daß ich mit jenen noch weit unzufriedener seyn muß, als mit diesen. Denn, so wie ich hier nicht nur erkenne, was zum besser und vollkommener seyn gehört, so fühle ich auch gar wohl die Möglichkeit, diese Vollkommenheit zu erreichen, wenn ich nur nicht von Trägheit, Weichlichkeit und Sinnenlust mich so oft abhalten ließe. Dieß verursacht, daß ich auch in Ansehung dessen, worin ich vielleicht wirklich besser bin, als andere Menschen, dennoch gar nicht viel von mir selbst halten kann. Denn da ich zu wenig Herr meiner Neigungen bin, um mich von ihnen loszureißen, wenn es daruaf ankommt, dem gerade gegenüber liegenden, von mir selbst erkannten, bewunderten und geliebten Guten nachzustreben: so muß ich wohl wein wirkliches Gute nur für Product eines unterstützenden Temperaments halten. So glaube ich, zum Beispiel, nicht, daß ich grob, beleidigend, hämisch, boshaft, zänkisch, unversöhnlich, rachgierig usw. bin: aber warum bin ichs nicht? Etwa weil ich das alles für Unrecht, das Gegentheil aber für Pflicht halte? Ach, das thue ich freilich: aber darum meide ich wohl nicht jene Laster und übe die entgegengesetzten Tugenden aus, sondern vielleicht nur darum, weil mein träges und weiches Temperament Ruhe und Frieden liebt. Wie manche meiner Tugenden mag aus Eigenliebe, Eitelkeit und Ruhmsucht entspringen!
An meiner Lebensweise und an meinen Sitten ist noch ungleich mehr auszusetzen. Ich bin kein guter Haushälter: nicht, daß ich etwa zur Verschwendung geneigt wäre, sondern weil ich ziemlich unordentlich, nachlässig, träge und leichtsinnig bin, und weder meines Geldes, noch meiner übrigen Habseligkeiten sonderlich achte. Es läßt sich daher auch kein Mensch bequemer betrugen, als ich. Denn wann ich den Betrug auch merke, so muß er schon arg kommen, ah ich ihn nur zur Sprache bringe, besonders auch darum, weil ich mich Hiemenden gern unangenehm mache.
In Essen, Trinken und vielen anderen Gegenständen des Luxus kann ich mich, ohne daß es mir sauer wird, sehr sparsam behelfen. Etwas weniger vielleicht in der Kleidung, worin ich, wenn es sein kann, wohl etwas mehr, als meines Gleichen, modernisire.
In dem, was die Kinder dieser Welt Artigkeit und feine Lebensart nennen, habe ich auch eben nicht viel gethan. Ich glaube, ich bin ziemlich trocken, hölzern und steif in meinen körperlichen sowohl als geistigen Bewegungen. Durch so genannte Galanterie-und Politesse bin ich schwerlich im Stande, mein Glück zu machen. Was ich vielleicht auch leisten könnte, den Menschen angenehm und gefällig zu seyn, das unterlasse ich doch entweder aus Stolz, oder aus Nachlässigkeit und Trägheit. Des Stolzes, wie auch des Trotzes gegen fremden Stolz und Trotz ist mir Oberhaupt eine ziemliche Portion zu Theil geworden. Dieß wäre indessen wohl noch so übel nicht. Aber das ist übel, daß ichs aus Nachlässigkeit und Leichtsinn zum Beispiel oft an Antworten auf Briefe, an Besuchen, an Ehrenbeschickungen und Befolgung mancher Vorschriften der Etiquette ermangeln lasse.
Was indessen Lebensweisen und Sitten betrifft, so glaube ich, ein Weib, das ich liebte, könnte mich ohne sonderliche Schwierigkeit zu demienigen machen, wozu sie mich nur immer gern hätte. Liebe würde meiner mächtig seyn, so viel ich nur meiner selbst mächtig bin, und wohl noch mehr. Ich weiß nicht, ob es mir zum Lobe, oder zum Tadel gereichen mag, daß ich mich bey einem geliebten Weibe kaum gegen Sclaverey aufrecht erhalten würde; besonders wenn sie die Kunst zu herrschen verstände.
Übrigens kann ich nicht bergen, daß man mich für einen ziemlichen Libertin hält, und leider! nicht ganz Unrecht hat. Doch ist es darum, weil ich bisweilen eine unartige Zunge habe, bei weitem nicht so arg, als mancher glauben mag. Ich bin in diesem Punkte nicht immer und sonderlich in früheren Jahren nicht, ganz regelmäßig, aber doch nicht auf eine niedrige und schmutzige Weise aussschweitend gewesen. Denn mit allen meinen Gebrechen Leibes und der Seele war ich doch jederzeit bey Weibern und Mädchen nur zu gut gelitten, ohne erst mühseliger Anwerbungen zu bedürfen. Ich fühle indessen, daß ich dem Weibe meiner Liebe ohne sehr harte und dringende Versuchung nicht ungetreu seyn könnte. Ich weiß das aus Erfahrung bey dem einzigen weiblichen Geschöpfe, das ich vor Elisen nur allein und im höchsten und vollesten Verstande des Wortes geliebt habe, wovon ich hernach reden werde.
Was ich bisher, und leider! auch zu meinem Nachtheil, von mir habe bekennen müssen, könnte vielleicht noch nicht hindern, daß ein Weib welches mich und welches ich liebte, mit mir glücklich wäre. Allein nunmehr folgt das Bedenklichste.
Wenn ich auch noch so liebenswürdig von Geist, Herz und Sitten wäre: so bin ich doch weder jung, noch schön, noch in guten häuslichen Umständen. Meine Jahre reichen völlig an das wohl bewußte - Schwaben-Alter hinan. Von hundert jungen, hübschen, zwanzigjährigen Mädchen dürften leicht neun und neunzig die Schultern davor zucken. Ob ich gleich an Gesicht und Figur nicht eben eine Fratze zu seyn glaube: so bin ich doch wahrlich auch nie ein Adonis gewesen. Das Profil das Elise kennt, soll, wie viele behaupten, mir ziemlich gleichen, wiewohl andere dieß wieder leugnen. Ich kanns nicht beurtheilen, weil ich nicht die Ehre habe, mich im Profil zu kennen; indessen möchte ich doch beynahe fürchten, daß man sich darnach leicht etwas hübscheres unter mir vorstellen könnte, als ich wirklich bin; etwas mehr Leben und Freundlichkeit allenfalls ausgenommen. Meine kleinen Kränkeleyen geben mir oft ein weit hinfälligeres und abgeblaßtes Ansehen; wiewohl in den Zeiten, da ich mich gesunder und munterer an Leib und Seele fühle, die Leute mich auch wohl für zehn Jahre jünger zu halten geneigt sind. Denn in der That bin ich ursprünglich von sehr guter Constitution, und stände vielleicht jetzt noch in eben der Blüthe, in welcher andere zwischen zwanzig und dreißig stehen, wann ich nicht Geist und Körper mit so vielen und langwierigen Widerwärtigkeiten hätte müde ringen müssen. Ich bin am ganzen Körper weit schmächtiger und magerer, als mein Gesicht vermuthen läßt. Ich habe dunkelblandes Haar und blaue Augen. Von den letzten pflegten bisher Weiblein und Mägdlein, bei denen ich, Gott weiß warum, bis auf den heutigen Tag niemals übel gelitten gewesen bin, eben nicht nachtheilig zu urtheilen. Überhaupt soll ich bis unter die Hase herab, selbst nach Mahler-Urtheil, nicht uneben gebildet, der Mund aber soll ganz verzweifelt häßlich sein. Das liebenswürdigste der Weiber pflegte zu sagen: "Bürger, es ist kein anderes Mittel, als man muß dich unaufhörlich küssen, damit man nur den häßlichen Mund nicht sehe, den du bisweilen wie ein wahrer Tropf hängen lassen kannst." - Sonderbar! Mir selbst kommt nun weder der Mund so excessiv häßlich, noch Nase, Stirn und Augen besonders schön vor.
Meine ökonomischen Unstände sind noch zur Zeit sehr schlecht. Ich habe nichts, - nichts! Ja, ich wurde sagen müssen: noch weniger, als nichts, wenn ich nicht noch so viel an Grundstücken besäße, daß meine Schulden damit getilgt werden können. Wenn aber auch dieß geschehen ist, so wird wenig oder nichts übrig bleiben. Ich hatte ein ganz artiges Vermögen. Allein bei einer sehr wenig einbringenden Beamtenstelle auf dem Lande, wobey ich gleichwohl ziemlich viel Aufwand machen mußte, und bei einer unglücklichen Pachtung, ist mein Vermögen drauf gegangen. Auch war meine erste Frau eine eben so nachlässige Haushälterin, als ich selbst. Schon vor 5 Jahren habe ich, durch unsäglichen Verdruß genöthigt, jene Beamtenstelle niedergelegt, und seitdem, freylich nicht eben im Überflusse, aber doch auch nicht in allzudrückendem Mangel, von meinem Kopfe gelebt. Ich bin nun zwar in diesen Jahren nicht weiter zurück, aber doch auch nicht vorwärts gekommen. Der Tod eines mir abgeneigten Ministers, der im verwichenen Frühjahr sich ereignete, hat verursachst, daß ich endlich hier als Professor angestellt worden bin. Wäre dieß, wie billig, eher geschehen: so befände ich mich wohl schon wieder in gedaihlichen Umständen. So aber eröffnet sich wir erst jetzt eine bessere Aussicht. Ich bekomme zwar noch kein Gehalt, und muß vielleicht noch ein Paar Jahre darauf warten; jedoch läßt sich hier durch Collegien-Lesen ein Ziemliches erwerben, und ich schmeichle mir, auf dem Wege zum Beyfalle zu seyn. Ich kann alsdann, wann ich auch noch keinen Heller fixes Gehalt bekäme, auf eine jährliche Einnahme rechnen, die aufs schlechteste nicht unter fünfhundert Thaler herab sinken, sehr wohl aber bis über tausend hinauf steigen kann. Wann sich nun ein gutes liebenswürdiges Weib, begabt mit etwas Vermögen und häuslichen Wirthschaftstugenden, entschließen könnte, mich armen Stümper zu heirathen: so ließen sich zwar wohl, wenn ich leben und gesund bliebe, ganz leidliche Umstände für mich, und zwar ohne des Weibes Nachtheil, erwarten. Aber wie, wenn Kränklichkeit mich unthätig machte, oder gar ein früher Tod mich hinnähme? Ach, dann könnte das gute Weib vielleicht nicht einmal ihr Zugebrachtes unverkürzt zurück, geschweige denn vollends eine andere hinlängliche Versorgung erhalten. einigen Trost hiergegen giebt jedoch unsere sehr solide Professoren-Wittwen-Casse, woraus sie sich sogleich eine jährliche Pension von hundert und zehn Thalern, so und bald sie in die Classe der sechs ältesten Wittwen gehörte, von hundert und dreißig Thalern zu versprechen hätte, mit der Freiheit, diese Pension zu verzehren, wo sie will. Gleiche Pension genießen auch die elternlosen Waisen so lange, bis das jüngste Kind das zwölfte Jahr erreicht hat.
Zu allen diesen bedenklichen Umständen kommt noch der, daß ich nicht weniger als drey Kinder, eine Tochter von elf, einen Sohn von sieben, und eine Tochter von vier Jahren habe. Nun ließe sich zwar wohl eine Einrichtung treffen, daß eine Frau wenig oder gar nicht davon belästget wurde. Denn meine älteste Tochter wird hier in eianr Pension, wo sie mir aber wohl gegen hundert und zwanzig Thaler jährlich kostet, erzogen; der Sohn ist auswärts bei einer leiblichen sehr edlen Schwester von mir, und die jüngste Tochter bei einer braven Frauen-Schwester. Jedes Kind hat es da, wo es sich befindet, sehr gut, und wird dergestalt geliebt, daß ich Mühe haben wurde, es loszureißen,- denn alle sind, Gottlob! sehr gut geartete und liebenswürdige Kinder von Kopf und Herzen. Allein wenn ich wieder heirathete, so würde es mit darum geschehen, daß ich dadurch von dem Herzweh genäse, welches ich so oft über die Abwesenheit und Zerstreuung meiner lieben Küchlein empfinde. Ich wurde sie dann wieder um mich versammelt wissen wollen, theils um Kosten zu ersparen, theils um ihre Erziehung unter meinen Augen zu besorgen. Da ich aber diese Kinder alle außerordentlich lieb habe, und es bay mir sowohl Temperament, als Grundsatz ist, daß man nie gütig und liebreich genug gegen seine Kinder seyn könne: so würde es mich an meiner empfindlichsten Seite schmerzen, wenn sie es bei einer Stiefmutter hart und übel hätten. Nun könnte eine Stiefmutter, wäre sie gleich sonst ein gutes Weib, die Kinder vielleicht dennoch nicht lieben, blos weil sie nicht Kinder ihres eigenen Leibes wären. Ganz unschuldiger Weise könnten sie ihr zuwider seyn. Denn ich fühle, es könnte mir ebenso gehen, wenn ich Stiefvater von manchen Kindern seyn sollte, die ich unglücklicherweise nicht leiden kann; und gleichwohl brauchte ich mich deswegen nicht für schlechter halten, als ich wirklich bin. Dieses ist also ein höchst wichtiger Punct, der aufmerksame Prüfung erfordert.
Nunmehr noch etwas von meiner vorigen Lebensgeschichte. Ich habe zwey Schwestern zu Weibern gehabt. Auf eine sonderbare Art, zu weitläufig hier zu erzählen, kam ich dazu, die erste zu halrathen, ohne sie zu lieben. Ja, schon als ich mit ihr vor den Altar trat, trug ich den Zunder zu der glühendsten Leidenschaft für die zweyte, die damals noch ein Kind und kaum vierzehn bis fünfzehn Jahr alt war, in meinem Herzen. Ich fühlte das wohl; allein aus ziemlicher Unbekanntschaft mit mir selbst hielt ich es, ob ichs mir gleich nicht ganz ableugnen konnte, höchstens für einen kleinen Fieberanfall, der sich bald geben würde. Hätte ich nur einen halben Blick in die grausame Zukunft thun können, so wäre es Pflicht gewesen, selbst vor dem Altare vor dem Sogensspruche noch zurück zu traten. Mein Fieber legte sich nicht, sondern wurde durch eine Reihe von fast zehn Jahren immer heftiger, immer unauslöschlicher. In eben dem Maaße, als ich liebte, wurde ich von der Höchstgeliebten wieder geliebt. 0, ich wurde ein Buch schreiben müssen, wenn ich die Martergeschichte dieser Jahre und so viele der grausamsten Kämpfe zwischen Liebe und Pflicht erzählen wollte. Wäre das mir angetraute Weib von gemeinem Schlage, wäre sie minder billig und großmüthig gewesen (worin sie freilich von einiger Herzens-Gleichgültigkeit gegen mich unterstützt wurde), so wäre ich zuverlässig längst zu Grunde gegangen, und würde jetzt diese Zeilen nicht mehr schreiben können. Was der Eigensinn weltlicher Gesetze nicht gestattet haben wurde, das glaubten drey Personen sich zu ihrer allerseitigen Rettung vom Verderben selbst gestatten zu dürfen. Die Angetraute entschloß sich, mein Weib öffentlich und vor der Welt nur zu heißen, und die Andere, in geheim es wirklich zu seyn- Dieß brachte nun zwar mehr Ruhe in aller Herzen; aber es brachte auch eine andere höchst angst- und kummervolle Verlegenheit zu Wege. Ein schöner talentvoller Knabe, eben der, welchen ich unter meinen Kindern mit aufgeführt habe, wiewohl vielleicht bis auf den heutigen Tag die meisten Menschen hiesiger Gegend nichts, wenigstens nichts gewisses davon wissen, war die Folge jener Übereinkunft. Er wurde heimlich zwanzig Meilen von hier in OberSachsen geboren, und seitdem von meiner Schwester erzogen. - Im Jahre 1784 starb meine erste Frau an der Auszehrung, die in ihrer Familie erblich war. Im Jahre 17e5 heirathete ich öffentlich und förmlich die einzige Höchstgefeierte meines Herzens; allein nach kurzem glückseligen Besitze verlor ich auch sie am 9. Januar 1786 nach der Geburt der jüngsten Tochter an einem hektischen Fieber. ,Was ihr Besitz, was ihr Verlust mir war, das sagen meine Freuden und Trauerlieder. Seit dieser Zeit lebe ich einsam und traurig mit sehnendem Herzen.
Kann Elisen der Mann noch reizen, der so vor ihr dasteht? Noch habe ich, wie mir vorkommt, mir selbst eben nicht zum Vortheil geredet. Etwas ist indessen doch wohl demjenigen erlaubt zu seinem Besten zu sagen, der keinen seiner wichtigsten Fehler vorsätzlich verschwieg. Dem Weibe, das mich, so wie ich da bin, zu lieben vermag, und welches ich mit voller Liebe wieder liebe, darf ich ein nicht unglücklichee Leben versprechen. Ist es ihr süß, von mir geliebt, an meinem Busen gehegt und gepflegt zu werden, so wird es ihr nie an voller Genüge ermangeln. Denn wenn ich einmal echt und von Herzen liebe, so liebe ich gewiß unveränderlich, und keine Fülle des Genusses sey das Grab der Liebe. Nur Afterliebe, die den heiligen Namen nicht verdient, erkaltet im Satt der Ehe. Der wahren Liebe, meiner wahren Liebe bleibt dieß immer ein Brautbett. Auch das Weib, welches ich unglücklich genug wäre, nach der unzertrennlichsten Verbindung nicht mehr zu lieben, darf wenigstens keine unedle und rauhe Begegnung von mir fürchten. Das bezeuge mir noch in jener Welt die, mit welcher ich zehn Jahre ohne ein rohes unfreundliches Wort verlebte, ob ich sie gleich nicht liebte. Eher möchte ich vielleicht fähig sein, mit der Höchstgeliebten meines Herzens, doch nur über geargwohnten Mangel an ihrer Gegenliebe, zu hadern. Gott bewahre mich vor einem Weibe, das mich für meine Liebe nicht vollauf wieder liebt! Noch bin ich in diesem Falle zwar nicht gewesen: aber mir däucht, es wurde von allen möglichen der schlimmste seyn. Leicht könnte ich dann der unerträglichste Mensch werden. Denn es kommt mir vor, als sey ich großer Eifersucht fähig. Freylich nicht, nach gemeiner Männer Weise, zum Hüthen und Auskundschaften der Schritte und Tritte meines Weibes; nicht zur Einschränkung ihrer Freiheit in irgend einer Art des Umganges: aber heimliche Verzweiflung wurde mein Herz zerfleischen, und in der grausendsten Gestalt eines HöllenVerdammten wurde ich vor ihrem .4ngesichte umherschleichen.
Nun, Elise, prüfen Sie sich und mich! erkundigen Sie sich, wo möglich, nach mir und meinen Umständen auch bei Andern. Doch glauben Sie eher nichts, als bis ichs Ihnen selbst bestätigt habe. Doch obgleich kaum irgend jemand mich schlimmer schildern wird, als ich es selbst gothan habe: so könnte mich doch wohl ein anderer minder wahr schildern, als ich, der ich mich selbst am besten kenne, zu thum im Stande bin.
Sie haben eine Mutter, und, wie mir versichert worden ist, eine rechtschaffene und gute Mutter. Wenn Ihnen je in Ihrem Leben der Rath einer solchen Mutter theuer und werth war, so lassen Sie sichs in diesem Falle doppelt angelegen seyn, auf ihre Stimme zu horchen. Sie wird vermuthlich diese Darlegung mit einem offneren und unbefangneren Sinne, als Sie, liebe süße Schwärmerin, aufnehmen, und der Rath des Mutter-Kopfes wird vermuthlich zuverlässiger seyn, als der Rath das Tochter-Herzen. Findet die Mutter, daß der Mann, der sich mit dem Pinsel der Wahrheit hier selbst geschildert hat, ohne mit Wissen und Willen irgend einen Flecken, worauf etwas ankommen kann, auszulassen, dennoch wohl ein guter Mann für ihre Tochter seyn könne: nun - so überlassen sie sich dem vollen Zug Ihres Herzens!
Doch nein! auch alsdann noch nicht eher, als bis Sie mich
selbst gesehen haben. tleynen Sie, nach wiederhohlter und abermals
wiederhohlter Prüfung dieser Seichte, daß ich, trotz
allem, was an mir auszusetzen ist, dennoch der Mann Ihres Herzens
seyn könne, wenn anders mein Körperliches Ihnen nicht
ganz und gar zuwider seyn sollte, und Sie sagen mir dieses redlich,
offenherzig und unbefangen: so will ich ganz in der Stille, unerkannt
und unter fremdem Namen, um weder Sie, noch mich selbst vor der
Welt bloß zu stellen, zu Ihnen nach Stuttgart kommen. Auch
ich selbst muß Sie erst sehen, wie Sie leiben und leben,
und ob Sie diejenige wirklich sind, die ich im Geiste freylich
schon längst mit hoher Liebe umfasse. Geist, Herz, Character
und Lebensart, Sitten, Stand, Ehre, Vermögen sind zwar wichtig
ingredenzien zu einer glücklichen Ehe; allein sie machen
es doch nicht immer und ganz allein aus. Wir sind insgesamt sinnliche
Menschen, und auch die Sinnlichkeit will ihr Recht haben. Unsere
Sinne müssen ein wechselseitiges Behagen an einander finden,
welches sich nicht gerade nach Jugend und Schönheit, sondern
oft nach einem unerklärbaren Etwas richtet, das sich weder
mahlen, noch beschreiben, noch allein im Innersten fühlen
läßt. Dieses Etwas läßt sich weder geben,
noch nehmen. Nach diesen Vorbereitungen wird es sich in der ersten
Stunde unserer persönlichen Zusammenkunft ausweisen, ob wir
das Publicum mit der allersonderbarsten Heiraths-Geschichte zu
amüsiren im Stande sind, oder nicht.
Ellse, Elise! ich schließe mit einer theuern, feierlichen Beschwörung. Bey dem ewigen Gotte, bey Ihrem eigenen Wohl und Weh und bey dem Wohl und Weh eines Mannes, der nicht redlicher um das Ihrige besorgt seyn kann, als er ist, beschwöre ich Sie: Wählen sie mich nicht zu Ihrem Gatten, wofern Sie nicht bey sich fühlen, daß Sie sich mit voller Liebe in meine Arme werfen können. Ich schwöre Ihnen, in Ansehung Ihrer eben dasselbe zu beobachten.
Und so hoffe ich freudig, der Allbarmherzige werde unsern Bund, wenn er zu Stande kommt, mit seinem Segen krönen.
GAB.
Nachweise
1) Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke. Hg. von Günter und
Hiltrud Häntzschel. München: Hanser 1987, S. 523
2) Briefe von und an Gottfried August Bürger. Hg. Von Adolf Strodtmann. Berlin 1874. Reprint Bern 1970; Bd. III, S. 167 f. (an Boie, 16.3.1786)
3) Briefe I, 70-72;22.9.1772
4) Freiherr von Zedlitz, Ober-Curator der Universitäten und Schulen, an den Großkanzler von Carmer, 15.11.1782; Briefe III, 103
5)Goethe an Bürger, 20.2.1782,; Briefe III, 70
6) an Boie18.6.1773; Briefe I, 122
7) Zit. In: Günter Häntzschel, Gottfried August Bürger. München 1988, S. 37
8) Gottfried August Bürger, Gedichte, Stuttgart 1981, S. 3 ff.
9) Gottfried August Bürger, Sämtliche Werke, S. 1071 f.; zit. Häntzsch, S. 84 f.
10. G.A. Bürger, Gedichte, S. 58
11) G.A. Bürger, Gedichte, S. 55
12) an Molly; zitiert im Brief an Goeckingh v. 12.11.1779, zit. Häntzsch S. 16
13) G.A. Bürger, Sämtliche Werke, S. 106
14) G.A. Bürger, Sämtliche Werke, S. 255
15) G. A. Bürger, Gedichte S. 52
16) Briefe III, 168 v. 16.3.1786
17) G.A. Bürger, Sämtliche Werke, S. 1246
18) Hermann Kinder (Hg.), Bürgers Liebe, Frankfurt am
Main 1981, S. 26 ff.