Dies ist ein ungeheurerGedanke. Er drückt einen Wunsch aus, der niemals der Gefahrunterliegt, die unter den Dichtern von den sogenannten romantischenam meisten gefürchtet wird: der Gefahr, an seiner Erfüllungzugrunde zu gehen. Denn diese Dichter wußten, daßsie um ihrer Produktivität und Existenz willen - und beidesgalt ihnen eins - vor allem ihre Träume pflegen mußten.Derselbe, der 1809, Alter von 46 Jahren, als er schon ein gefeierterSchriftsteller war, den Gedanken notierte: "Kein Einfallsollte untergehen", hatte schon 1790 in eine Kladde mitder Aufschrift "Dichtungen" geschrieben:
nämlich kein Wortspiel.
Es ist bekannt, daß Johann Paul Friedrich Richter, Sohneines armen Schulmeisters im Fichtelgebirge, mit sechzehn Jahrenschon wußte, daß er Schriftsteller werden wollte,und seine Hefte mit Bücherexzerpten und immer mehr eigenenEinfällen anlegte zwecks eventueller Verwertung in künftigenRomanen. Nicht so bekannt ist vielleicht, was eigentlich diesemBerufswunsch zugrundelag, was der Kern der "Berufung"zu diesem Beruf war, der zu dieser Zeit gesellschaftlich ja erstdurchgesetzt werden mußte unter großen Mühen.Was wollte Johann Paul Friedrich Richter, wenn er sich JEAN PAULnannte und schrieb? Was bedeuteten ihm Ruhm, Unsterblichkeit,Unendlichkeit?
Die Antwort kann natürlich nur die Lektüre des Gesamtwerkselbst liefern. Und doch gibt es nun eine verführerischeMöglichkeit, sich einen Extrakt nicht des immensen Werkes,aber doch sozusagen Formulierungen seiner subjektiven Produktionsbedingungenanzusehen, dem Dichter bei der Genese der Werks über dieSchulter zu schauen.
Die Preußische Nationalbibliothek erwarb 1889 den unveröffentlichtenNachlaß Jean Pauls. Es handelt sich um 37 etwa schuhschachtelgroßeBündel, deren Inhalt etwa das Drei- bis Vierfache des zuJean Pauls Lebzeiten Gedruckten ausmachen wrden: rund 40000Seiten mit Exzerpten, Beobachtungen, Vergleichsreihen, Übungenim Ideenwürfeln", Zusammenstellungen von Redensartenund Redewendungen, vor allem aber Jean Pauls "Bausteinen"und "Einfällen". Nun gibt es, parallel zu einerneuen Gesamtausgabe bei Zweitausendeins und der wiederveröffentlichtenBiographie: Das Tolle neben dem Schönen" von Rolf Vollmanneinen ersten Auswahlband: "Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungenaus dem unverffentlichten Nachlaß, herausgegeben vonThomas Wirtz und Kurt Wölfel".
"Kein Einfall sollte untergehen": natürlichwäre es ein Mißverständnis, diesen Satz als Motivzur Arbeitsbeschaffung für Philologen in Anspruch zu nehmen.Und so ist denn auch dieser Band keine verkleinerte Repräsentationdes Nachlasses oder gar Beginn und Aufforderung zur Vervollständigung,sondern durchaus ein Buch für Leser geworden. Jean Paul,bekannt in erster Linie für sein enzyklopädisches, gigantischesProsawerk, etwa den vierbändigen "Titan" und dendreibändigen und Fragment gebliebenen Roman: "Flegeljahre",wird hier als Aphoristiker vorgestellt, als der er sicher nichtgesehen werden wollte. Aber auch der berühmteste deutscheAphoristiker, Georg Christoph Lichtenberg, ist erst posthum zueinem solchen ernannt worden, nachdem man seine "Sudelbücher"aus dem Nachlaß veröffentlicht hatte und den ästhetischenund intellektuellen Eigenwert dieser Aufzeichnungen erkannte.Lichtenberg hat den großen Roman nicht geschrieben, denauch er projektierte. Jean Paul dagegen hat fast monströseWerke verfaßt, die überquellen von Abschweifungen,Wortspielen, Assoziationsketten, Vergleichen aus allen verfügbarenWissensgebieten, und die es dem Leser manchmal schwer machen,dem mehr oder weniger abenteuerlichen Handlungsfaden zu folgen.Es ist möglich, daß dem Göttinger UniversitätsprofessorLichtenberg das private Notieren sonderbarer Bemerkungen und Gedankeneher zu einem Training des Witzes diente, der dann im geselligenGespräch zur Geltung kommen konnte, während dem KleinstädterRichter eine solche Gesellschaft fehlte und er sich einen anderenOrt für seine berquellende geistige Produktion suchenmußte, eine anderes Gefäß: die Literatur, denRoman. Lichtenberg hatte die Literatur sozusagen noch nicht nötig,seine privaten "Sudelbücher" reichten ihm aus,weil er genug lebendige Gesellschaft hatte, sich mitzuteilen.
Für Jean Paul dagegen gab es nur das All und das Ich undihre unendliche Spiegelung ineinander. Ihm ging es, so scheintes und so lassen es seine Aufzeichnungen noch deutlicher erkennenals sein Werk, um den dauernden Vorgang der Verwandlung des ganzunscheinbaren Johann Paul Friedrich Richter in den Dichter JeanPaul.
heißt es einmal, oder:
oder gar, im Stil der fichteschen Philosophenschule:
und in dem Alterswerk "SELINA oder ber die Unsterblichkeitder Seele" ruft der Dichter emphatisch aus:
Im "unbedeutenden Wicht" Richter wohnt der DichterJean Paul. Der Wunsch, Schriftsteller zu werden, ist nur auf denersten Blick eine Berufswahl, verbunden mit dem Bedürfnisnach gesellschaftlicher Anerkennung für eine nützlicheTätigkeit und Existenzsicherung. Jenseits dieser pragmatischenDimension stellt der Wunsch sich dar als das Begehren nach einerzweiten, selbstgeschaffenen, dem eigentlich poetischen Leben.Der Weg dazu ist der Imperativ:
Aber ist das Ziel, die poetische Existenz des JEAN PAUL, eigentlicherreicht, wenn der Dichter seine Anerkennung in der Geschichteder Literatur gefunden hat; kann sein höchstes Ziel im literarischerRuhm oder in der Unsterblichkeit des Namens gesehen werden?
Es läßt sich durchaus daran zweifeln.
Jean Paul über den Ruhm, aus seinem jetzt erstmals veröffentlichtenNachlaß:
Und Jean Paul in einer Vision, in der nicht ganz klar wird,ob es sich um ein Angstbild handelt oder eine verstandesklareVorausschau, in die er letztlich auch den berhmten Menscheneinschließt:
Das "zweite Leben", um das es Johann Friedrich geht,wenn er JEAN PAUL werden will, ist nicht in erster Linie unsterblicherliterarischer Ruhm. Der Aphorismus Elias Canettis hätte JeanPaul vielleicht gefallen:
Doch scheint es, daß nicht einmal die größtmöglicheQualität des Werks das höchste Erstrebenswerte fürJean Paul war, sondern etwas anderes, das ihm zugrundeliegt, nochvor der eigentlichen Vollendung, und das die Vollendung des Werks,und damit den Eingang in die Geschichte der Literatur, als einetrügerische Wunscherfüllung erweist. Denn einer poetischenNatur, so Jean Paul
Die "Seeligkeit", von der Jean Paul in den Notizenspricht, entspricht nicht der Befriedigung vollendeter Realisierung,entspricht eigentlich gar keiner Realität außer derder imaginierten Befreiung von ihr.
heißt es im "Gedankenbuch", und, etwas ausführlicherbegründend:
Das klingt nun etwas resignativ dem sogenannten Leben gegenberund erinnert an den unvergeßlichen Satz in der BiographieRolf Vollmanns im Kapitel über Jean Pauls "Simultanliebhabereien",seine berühmte "erotischen Akademie":
zu dem Vollmann immerhin anmerkt:
Der Augenblick des poetischen Schaffens, in dem Genießenund Darstellen ineins fallen, wird dem Dichter zur Instanz derVermittlung zwischen seiner endlichen Existenz und der ersehntenUnendlichkeit; andere Zeiten und Kulturen - Jean Paul scheut sich,diesen Begriff dafür zu benutzen - nannten das Ekstase odergöttlichen Wahnsinn. Auch das folgende Bild, das dagegeneher kontemplativ-mystisch anmutet, beschreibt eine Bedingungpoetischer, aus dem unendlichen Innern schöpfender Produktivität:
Dem wiederum korrespondiert die folgende Notiz, und es wirddeutlich, daß für Jean Paul die Anschauung des Allsund die des "Ich", der Blick nach außen und dernach innen, ein und dassselbe ist und beides auf das Wunder desbloßen Daseins führt:
Es gibt eine erstaunliche autobiographische Notiz zu dieserErfahrung des Da-Seins, ein Erweckungserlebnis eigener, jeanpaulscherArt:
zit. Vollmann S. 17
Im schon erwähnten Alterswerk "Selina" heißtes einmal ber das unendliche Universum des Innern:
Für das "Ich" läßt sich hier getrost"Jean Paul" einsetzen, die geistige Chiffre FriedrichRichters. In ihr sind die Angst vor der Ruhmlosigkeit und dieGleichgültigkeit enthalten; die Chiffre vereint den Widerspruchund alle mglichen Widersprüche, ohne sie zu harmonisieren.Es gibt natürlich den (bürgerlichen) Wunsch nach Anerkennungeiner Leistung, und es gibt den durchaus selbstbewußt formuliertenenAnspruch auf diese Anerkennung, etwa in der Bemerkung:
Das könnte so auch ein Handwerker von sich behaupten,und ein solcher war Johann Friedrich Richter gewiß auch:ein literarischer Handwerksmeister, der gewaltige Produkte verfertigteund sich dabei die größte Mühe gab, sie gut zumachen. Nur, wenn das Produkt gar nicht in erster Linie das literarischeWerk ist, sondern die unendliche Existenz des JEAN PAUL, bekommtauch diese Bemerkung eine andere Dimension.
Wie bei allen Mystikern gibt es auch bei Jean Paul ein physisches,und ein - im weitesten Sinne - moralisches Problem. Physisch heißt:der Aufschwung in die "zweite Welt", das Abheben desLuftschiffers in die höheren Regionen des Ideengewimmels,aber auch des klärenden "Überblicks", bedarfmanchmal eines physiologischen Katalysators. Jean Paul hat dieWirkung von Kaffee und Alkohols in dieser Hinsicht genau studiert.Wenn er stark getrunken habe, philosophiere er heller und wahrerals er dichte, bemerkte er - also übte er die Dosierung jenach Schreibebene. Wein hilft beim Ideen-Gewinnen, Kaffee beimAusarbeiten - also sagte er sich: Entwirf bei Wein, exekutierebei Kaffee. Jean Paul hatte ein geradezu professionelles Interesseam Trinken - für das Schreiben. Trinken in Gesellschaft dagegenhielt der Dichter eigentlich für nutzlos - das war verschwendeteSpiritualität. Die an geselligen Tafeln guten Wein trinken,gehen stumpf nachhause und erwachen stumpf, während der amSchreibtisch getrunkene Wein den hebt, der ihn trinkt, und dieWelt, die ihn liest. Der ruinierte Körper ist natürlichder Preis des provozierten Enthusiasmus.
Der moralische Preis der alles um ihn und in ihm verwandelndenpoesiehungrigen Sensibilität liegt in der wohl notwendigenDistanz zur Umgebung. Schiller kam er so fremd vor wie einer,der aus dem Mond gefallen ist, und Goethe hielt ihn für "eineArt von theoretischem Menschen"; doch was die Dichterkollegennur ein wenig befremdete, das schmerzte besonders die Freundinnen.Charlotte von Kalb etwa beklagte sich bei Karoline Herder darüber,daß Jean Paul kaum etwas Leidenschaftliches oder Persnlich-Anteilnehmendesin seinen Verbindungen zeigte; alle seine Freunde seien ihm nurIdeen, und als Personen seien sie ihm gleichgültig. Ihm gingees nur darum, "Ideendarstellungen in der Masse der ihm bekanntenWelt aufzusuchen", das sei es, was ihn reizte, beschäftigte,belebte. Dabei verkennt Frau von Kalb im selben Brief nicht denGewinn, den das für den Dichter hat; sie lobt seinen freienSinn und unbefangenen Blick, und er knne nur deshalb wederlieben noch hassen, weil er die Menschen so leicht durchschaue.
Dabei waren Jean Paul die Menschen seiner Umgebung nicht einmalreines Beobachtungsmaterial; er nahm nicht realistisch wahr, umetwa "lebensechte" Darstellungen in seinen Romanen zugeben, sondern idealistisch. Die Poesie schildert nicht die Wirklichkeit,sondern, wie es in einer Aufzeichnung heißt, "die besteWelt, die vor der Schöpfung in Gott war". WirklicheMenschen und ihre Verhältnisse - nicht anders als Bücher- waren dem Dichter nicht für sich bestehende, eigensinnigeGegenstände, sondern eher so etwas wie Reize, die sein Innereskreativ in Bewegung setzten - das angetrieben wurde von der Sehnsuchtnicht nach einer besseren, sondern: nach der besten Welt. Nötigwar dazu vor allem immer wieder Einsamkeit; Jean Pauls "Sehnsuchtnach der Sehnsucht" war der Wunsch nach dem Alleinsein mitsich und dem All. Die Anwesenheit anderer Menschen hinderte ihnam freien Denken, weil er das Gefühl hatte, die Gedankender anderen immer mit denken zu müssen. Selbst Bücherkonnten ihn in diesem Sinne stören, und er suchte den "Tempelder innern Bildung" frei zu halten und innerlich mit niemandemals sich selbst zu sprechen, niemanden sonst zu hören, dasGedankenauge "sich auf sich zurückzudrehen". Undum sich nicht im Ideen-Gewimmel in sich zu verlieren, sondernzu denken und zu dichten und sich lebendig zu fühlen - dasFühlen war ihm ein Verdichten der Gedanken! - dazu hatteJean Paul beinahe nur einen Gott nötig.
Und doch: es klagen nicht nur Freunde und Freundinnen überdie - bei aller Liebenswürdigkeit - spürbare Distanziertheitund Unnahbarkeit des Dichters - er notiert auch selbst beunruhigendeZeichen einer Entfremdung von sich. Als einen "Lebens-Libertin"von innen bezeichnet er sich einmal, der weder Bier oder Weinnoch Frauen oder Geselligkeiten wirklich genießen konnte,da die inneren Phantasien und Darstellungen das äußereLeben abgeflacht und verzehrt hätten, und dies nur, indemer sie darstellte.
Der Dichter Jean Paul läßt einen durchaus unglücklichenJ. P. F. Richter zurück, den es bei zunehmendem Alter immerweniger reizt, noch eigene Lebenserfahrungen zu machen, wo erdoch alle möglichen Gefühle in der Phantasie schon vielintensiver erlebt und in seinen Romanen dargestellt hat. Eineprosaische Natur finde im Alter zuletzt, was sie in der Jugenderträumte, eine dichterische dagegen erlebe nur die Auflösungder Träume in eine Wirklichkeit, die, sei sie auch die schönste,das Ende des Traumes und damit das Ende des Genusses sei: deshalbleide eine poetische Natur im Alter mehr, nämlich geradean den Verwirklichungen.
Doch Jean Paul tröstet sich: er sterbe jeden Tag leichter,denn jeden habe er mehr drucken lassen.
So viel wie nur möglich aus sich zu machen, das heißtalso nicht oder nicht nur: die bestmögliche Strategie zusuchen für ein Maximum an Verwertbarkeit der von Natur undGesellschaft mitgegebenen Anlagen. Es geht nicht um die Ausbeutungdes Talents und des Wissens zu einem irgendwie noch bestimmbarenZweck, etwa dem, Romane zu schreiben und damit Erfolg zu haben- obwohl das, was der Dichter macht, wenn er "alles"aufschreibt, wie eine Arbeit aussieht, die einem bestimmten Zweckdient. Jean Paul sammelt seine Einfälle eben nicht füreinen bestimmten Zweck, sondern für ein all-umfassendes Projekt:die Darstellung der Unendlichkeit.
Norbert Miller, der Mitherausgeber derjenigen Werkausgabe beiHanser, die jetzt bei Zweitausendeins neu aufgelegt wurde, führtin seiner Einleitung zu Jean Pauls Jugendwerken einen interessantenVergleich an:
Wenn Jean Paul aus Johann Friedrich Richter so viel machenwill, als aus einem solchen Stoff nur zu machen ist, so hat ersich nichts anderes vorgenommen als die mglichst umfassendeDarstellung seiner inneren Unendlichkeit - in Korrespondenz zuder Unendlichkeit des Weltalls. "Alles aufschreiben":das heißt dann: durch dieses endlose Alles zum unendlichenAll. Natürlich wußte Jean Paul um die bei allem Aufwandhöchstens erreichbare Symbolik der Bemühung, und erlitt darunter.
Erst in dieser metaphysischen Perspektive wird der Imperativ"Schreib alles auf!" seiner buchhalterischen oder detailfixiertprotokollarischen Funktion enthoben und wandelt sich zum intransitiven,schpferischen: "Schreib!" Es geht immer noch nichtum Literatur, um die Erfüllung bestimmter Stil- und Gattungsnormenetwa oder um die Installierung neuer Regelsysteme aus genialischemGeiste. Jean Paul existentieller Imperativ, sein "Ich schreibe,also bin ich" scheint noch vor oder jenseits der literarischenKodifizierung zu liegen. Die nun vorliegenden Exzerpte aus seinem"Ideen-Gewimmel" deuten das nur an; denn die Herausgeberhaben bei der Auswahl sicher um der Lesbarkeit willen auf minimalestilistische Qualität geachtet und sich an der inzwischen- nach Lichtenberg - etablierten Gattung des Aphorismus orientiert.Die Biographie von Rolf Vollmann "Das Tolle neben dem Schönen"kann hier aber ergänzend herangezogen werden. Nicht etwanur, weil hier eine Lebensgeschichte und fehlende Lebensdatennachgereicht werden, die för das Verständis des Werksoder dieses Nachlaßbandes und der Person des Schriftstellershilfreich sind, sondern noch aus einem anderen Grund. Währendder Band "Ideen-Gewimmel" den Autor Jean Paul in hundertevon einzelnen Gedankensplittern zerlegt und beim Leser den Eindruckhinterlassen kann, es ginge um nichts anderes als darum, überhauptEinfälle zu haben und festzuhalten, um einen Zipfel vom begehrtenUnendlichen zu erhaschen, geht Rolf Vollmann bei aller Bescheidenheitsozusagen aufs Ganze. Er will zwar nicht den ganzen Jean Paul,aber doch Jean Paul als ein Ganzes vorstellen, und er versuchtes mit dem Einsatz - nicht etwa der vollständigen Forschung,sondern: seiner ganzen, höchstselbigen Person. KritischenLesern, die meinen könnten, Vollmann lehne sich manchmalallzu eng an Jean Paul an, verweist er auf dessen Bemerkung:
Nun könnte eine nachahmende Biographie so aussehen, daßder Biograph sich am Stil des dargestellten Autors orientiertund in diesem Falle etwa eine Lebensbeschreibung gibt nach Artder "Selberlebensbeschreibung", wie Jean Paul das Fragmentseiner Autobiographie betitelt hat, nur ausführlicher. Dasversucht Vollmann nicht; seine Nachahmung besteht darin, daßer überhaupt subjektiv schreibt, sich selbst nicht außenvor läßt und sich nicht hinter Sekundärliteraturverschanzt - wenn auch mit kritischen Seitenhieben auf die Philologennicht gespart wird. Wo es geht, läßt er Jean Paul selbstzu Wort kommen und regt damit nachdrücklich zum Weiterlesenan. Vollmann kommt aufgrund von sprachlichen Analysen zu einemgroßartigen Resultat, und er hat den überhaupt nichtselbstverständlichen Mut, es zu sagen:
In der Tat ist das ein äußerst kühner Satz,den ein Literaturwissenschaftler, dem es um Wertung, Einordnung,Aufweis von literarischen und außerliterarischen Bezügengeht und vielleicht noch um das hermeneutische Erfassen der Individualitätdes Autors, ums "Verstehen", nicht über sich bringenwürde. Doch es scheint mir, daß Vollmann hier rechthat: Wenn Jean Paul heute wieder entdeckt, gar wieder gelesenwerden kann - der ganze Jean Paul, nicht nur seine beliebten skurrilenErzählungen - dann wohl nur von denjenigen im literarischenPublikum, die sich so viel "Geschmack für das Unendliche"(so nannte Schleiermacher den Religionssinn) bewahrt haben, daßsie für das Wilde in seinen vertrackten Sätzen und überquellendenVergleichen offen sind, für das Nicht-Domestizierte, fürdas, was nicht Stil und nicht Literatur ist, für das Wildernim Ideen-Gewimmel seines Geistes, in dem sich - und dafürsteht der Name JEAN PAUL - sämtliche Geister seiner Epochetummeln.
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