"Wenn ich sterben sollte", sagte ich zu mir selbst,
" habe ich kein unsterbliches Werk zurückgelassen -
nichts, um meine Freunde stolz auf meine Erinnerung zu machen
- aber ich habe das Prinzip der Schönheit in allen Dingen
geliebt, und wenn ich Zeit gehabt hätte, würde ich mir
einen Gedanken geschaffen haben."1
Der englische Dichter John Keats war gerade 24 Jahre alt, als
er diese resignierten und doch stolzen Zeilen niederschrieb -
in einem Brief an seine Geliebte Fanny Brawne im Februar 1820.
Die Tuberkulose hatte schon vom Kehlkopf auf die Lunge übergegriffen,
mehrmals hatte ihn ein Blutsturz heimgesucht, und er fühlte
sich so schwach und nervös, daß er schöne Verse,
die ihn sonst genährt hatten, nicht einmal mehr lesen durfte,
so sehr griffen sie ihn an - geschweige denn selber welche schreiben.
12 Monate dauerte das noch, was er Freunden gegenüber, die
ihn pflegten, sein "posthumes Leben" nannte; dann erlöste
ihn, ausgerechnet in dem Land, das so manchem anderen immer wieder
neue Lebenskraft gab und geben sollte - in Italien - der Tod.
Der Maler Joseph Severn, der Keats in Rom zu Ende pflegte,
sieht nicht nur die Krankheit selbst als Ursache seines so frühen
Todes, sondern auch seine allgemeine Gemütslage, seine heftige
"Natur"; wenn er mit seinem intensiven Gefühlsleben
fertig geworden wäre, diesen, so Severn, "unseligen
Kombinationen und Leidenschaften des Gemüts, von denen keine
Arznei der Welt ihm Linderung verschaffen kann, noch sonst ein
Mittel, da sie seine Natur sind", wenn er wenigstens zeitweilig
eine gewisse Gemütsruhe erreichen könnte, um "die
Maschinerie des Körpers in Gang zu halten", dann hätte
er vielleicht noch einmal auf die Beine kommen können. Doch
habe Keats diese Gemütsruhe nie besessen, selbst die Glücksgefühle
in seinem Leben seien so stark gewesen, daß sie sein Leiden
nur beschleunigt hätten zum Ende hin.
Und doch gibt es Friedensbilder in Keats Gedichten, wenn auch
äußerst fragile Momente, die, wie es in einem berühmten
Gedicht heißt, wie "auf Zehenspitzen" aufgenommen
scheinen - diese lyrisch gebannten Augenblicke künden wenn
nicht von der Erfahrung, so doch von dem intensiven Wunsch nach
einem ruhigen Stillstand im "rastlosen Gärstoff"
der Dichterseele. Ein Frühlingsgedicht etwa, das zunächst
einen lebendigen Aufbruch zu beschreiben scheint und dann alle
Jahreszeiten phantastisch ineinanderspielt, stellt am Ende den
Tod selbst mitten hinein in solche glückhaften "stillsten
Bilder".
Keats hat sich selbst, seine Seele, einmal als "die unzufriedenste und unruhigste" bezeichnet, "die jemals in einen Körper gelegt wurde, der ihr zu klein ist"3.
Gewiß ist John Keats Lyrik, die neben dem "langen
Gedicht" die streng klassischen Formen Sonett und Ode bevorzugt,
ein Ausdruck des Wunsches nach Verwandlung der quälenden
Unzufriedenheit und Unruhe in stillen Frieden und Ruhe. Die Qualität
der Dichtung, die sich schließlich in der Anerkennung John
Keats als des größten englischen Lyrikers seit Milton
literaturgeschichtlich durchsetzte, hat aber auch damit zu tun,
daß diese Poesie nie nur befriedet und beruhigt - empfängliche
Seelen können sich vielleicht auch heute noch von den in
diesen klassisch-strengen Gebilden konzentrierten Energien elektrisieren
lassen.
"Verse, Fame and Beauty are intense indeed,
But Death intenser - "
so lautet die vorletzte Zeile dieses seltsamen Gedichtes der
Todesangst und Todesbereitschaft im englischen Original. Poesie,
Ruhm und Schönheit oder Poesie, Ruhm und Liebe - diese Themen
tauchen, vielfach variiert, immer wieder auf in Keats Gedichten
und in vielen seiner Briefe; sie können als die Grundthemen
seines Lebens und Schaffens, seines poetischen Strebens und ästhetischen
Reflektierens gelten. Er ist besessen von ihnen, von dem Reiz,
mit dem sie ihm am Leben erhalten und zum Arbeiten treiben; aber
auch von der "Intensität", mit der sie ihn bedrängen
und all seine Lebenskraft absorbieren.
In einer Ode beschwört der kranke Dichter Keats die Natur
als einen Arzt, seinen Geist quasi zur Ader zu lassen und die
gepeinigte Seele von Versen zu befreien, damit sie endlich Ruhe
fände:
Ein Sonett wiederum beschreibt den poetischen Schaffensprozeß als das lebensnotwendige Verwandeln quälender Phantasien in feste, überlebensfähige Formen; die Möglichkeit eines Verlustes von Poesie, Ruhm und Liebe wird befürchtet - doch steckt in dem Nichts, das dann bleibt, vielleicht auch ein Wunschbild, das den Dichter als jemanden zeigt, der sich im Grunde danach sehnt, nicht mehr dichten, lieben, begehren zu müssen.
Als John Keats sich entschloß, nichts als Dichter zu
werden, war er um die zwanzig Jahre alt. Er hatte schon einige
Schicksalsschläge hinter sich. Durch einen Unglücksfall
hatte er früh seinen Vater, einen nicht sehr wohlhabenden
Mietdroschkenbesitzer, verloren; seine Mutter hatte sich wieder
verheiratet, aber nicht glücklich, so daß sie eine
Trennung vorzog und nun mit ihren vier Kindern bei deren Großmutter
in Edmonton lebte. Die drei Söhne gingen auf eine Schule
in Enfield, und es war deren Direktor Clarke, der Johns Wissensdrang
auf das klassische Altertum und die englischen Dichter der Renaissance
lenkte. John war fünfzehn und im letzten Schuljahr, als seine
Mutter schwer erkrankte; er pflegte sie Tag und Nacht bis zu ihrem
Tode. Nach Meinung mancher Biographen war es dieser hautnah erlebte
Tod der Mutter, aber auch schon früher ihre Wiederverheiratung
mit einem in den Augen des Sohnes unwürdigen Erbschleicher,
was dann zu der tiefsitzenden Angst des jungen Mannes vor der
Enttäuschung besonders durch Frauen geführt hat. In
einem Brief an einen Freund schreibt Keats 1818:
Wenn ich unter Frauen bin, habe ich schlechte Gedanken, Boshaftigkeit,
ich kann weder reden noch schweigen, ich bin voller Argwohn und
höre deshalb gar nicht richtig zu, ich habe nur das Verlangen,
schnell wegzukommen. Sie müssen nachsichtig sein und all
diese Widernatürlichkeiten dem Umstand zugute halten, daß
ich seit meiner Knabenzeit immer wieder enttäuscht worden
bin.7
Es wird noch von einem anderen anderen, sozusagen romantischerem
"Urerlebnis" in dieser Hinsicht berichtet: So soll die
erste Leidenschaft des heranwachsenden John Keats einer Unbekannten
gegolten haben, die er eine halbe Stunde beobachtet hatte. Er
erwartete von ihr ein Lächeln, doch es blieb aus...
Keats verschwieg seinen Freunden immer, daß er eine Waise
war. Sein Vormund nahm ihn von der Schule und schickte ihn bei
einem Wundarzt in die Lehre; nach drei Jahren ging er als Medizinstudent
nach London. Doch da hatte ihn schon der dichterische Ehrgeiz
ergriffen. Es war sein Lehrer und Freund Clarke, dem er von der
Verzweiflung berichtete, in Spitälern und Hörsälen
am falschen Ort zu sein; ihn zog es in die ländliche Natur
und in die Gesellschaft literarischer Freunde. Clarke machte Keats
schließlich dem einflußreichen Poetenkreis um Leigh
Hunt bekannt, und fünf Monate später erschien Keats
erster Gedichtband, die "Poems 1817".
Die Gedichte waren im allgemeinen Taumel des Zeitalters entstanden, dem Gefühl für eine Neugeburt der Poesie, der Erlösung aus jahrhundertelanger literarischer Tyrannei, wofür Wordsworth, Coleridge, Scott und Byron wirksam gekämpft hatten.
Doch das Wunder der plötzlichen Populariät Byrons
wiederholte sich für Keats nicht: der ersehnte Bucherfolg
blieb aus. John Keats' Brüder, die ihn innig verehrten, schoben
alle Schuld auf den Verleger; die Reaktion von John war: intensiver
Haß auf das literarische Publikum. In einem Brief schrieb
er später, im August 1819:
Der stolze Dichter sehnt sich nach Ruhm, er ist durchaus ehrgeizig,
doch verachtet er die Gunst des realen Publikums - ebenso liebt
er die Menschen nur ihrer Idee nach, die wirklichen mag er nicht.
Der Gesellschaft des Publikums und der literarischen Zirkel
zieht Keats immer mehr die Gemeinschaft weniger Freunde vor, die
mit ihm zusammen Spenser und Milton lesen, immer wieder auch Shakespeare,
und griechische Skulpturen studieren. Am liebsten ist er jedoch
mit sich und seinen Dichtern allein.
In einem Brief an seine Geliebte Fanny stellt Keats eine Beziehung
her zwischen der Einsamkeit, der Kraft der Imagination und der
Abwehr - von Frauen.
Keats Freunde sehen die seelische Gefahr für ihn, die
in der völligen Loslösung liegt, im angestrengt reinen
Vorstellungsleben des Dichters, in der Abstraktion der Phantasie;
dadurch könne er, wie es einer von ihnen ausdrückte,
"von Leib und Seele getrennt" werden. Keats benennt
einmal den Unterschied zwischen Lord Byron und ihm: Jener beschreibe,
was er sehe, er jedoch, was er sich vorstelle. Zeitweilig lebt
der Dichter Keats beinahe nur noch in den Geschöpfen seiner
Einbildung; der Drang, sie zu gestalten, äußert sich
in fieberartigen Anfällen, und die Dichtung wird ihm immer
mehr zur Religion.
schreibt er an Fanny, und dem Dichterkollegen Shelley bekennt
er:
Kaum einer hat so genau und vielfältig wie Keats die sprichwörtliche
Weltfremdheit des in seinen Vorstellung lebenden romantischen
Dichters beschrieben. Was an der Welt bestimmt, kompakt ist, was,
nach seinem Ausdruck, "Identität" hat, bedrückt
ihn, fordert ihn heraus, zwingt ihn zur Flucht in selbstgeschaffene
Bilder - die Auflösung seines eigenen Ichs ins Nicht-Identische,
Charakter-Lose erklärt Keats geradezu zur Bedingung poetischer
Schaffenskraft - und nimmt dabei das bürgerlich-moralische
Verdikt der Unzuverlässigkeit und Unbeständigkeit in
Kauf.
Kein Wort, das ich sage, kann für voll genommen werden
als Ausfluß meiner identischen Natur - wie kann es das,
wenn ich keine Natur habe? Wenn ich in einem Raum mit anderen
Leuten zusammen bin, wenn ich dann überhaupt frei bin vom
Nachdenken über die Geschöpfe meines eigenen Gehirns,
dann geht nicht mein Selbst nach Hause zu mir: sondern die Identität
eines jeden im Raum fängt an, auf mich einzudrücken,
so daß ich in kurzer Zeit vernichtet bin...15
Einen Besuch bei seinem kranken Bruder nimmt Keats zum Anlaß
für eine Beschreibung des Zwangs, der ihn in seine Vorstellungswelt
und zum Schreiben treibt:
Einem Freund legt der dreiundzwanzigjährige Keats seine
grundsätzliche Auffassung vom Charakter eines Dichters dar,
wie er ihn zweifellos an seiner eigenen Person erlebt:
Den Begriff des Genies erläutert der Medizinstudent mit
einem Gleichnis aus der Chemie:
John Keats, der von sich selbst sagt, daß er zu nichts
anderem als zur Dichtung tauge,
Keats will kein solcher "Mensch der Macht" sein;
er träumt von einer anderen Macht jenseits des "Identischen"
- er sucht die Verbindung und Verschmelzung von Macht und Schönheit,
von Schönheit und Wahrheit, ja er sucht sie nicht nur, er
will sie herbeizwingen durch die Kraft der Imagination.
Alle Macht der Schönheit: um diese Thema geht es etwa
in Keats großem, unvollendet gebliebenem Versepos "Hyperion".
Das Sujet behandelt nichts geringeres als den Sturz der Titanen
in der antiken Götterwelt; Quelle ist vor allem eine englische
Übersetzung der "Metamorphosen des Ovid". Das erste
Buch des Fragmentes, das schließlich zweieinhalb Bücher
mit circa 900 Zeilen umfaßte, schildert elegisch den gestüzten
Saturn, einen der Titanen, die im Kampf gegen die von Jupiter
angeführte jüngere Göttergeneration unterlagen.
Die Besiegten schmachten in Ketten oder trauern in irdischer Abgeschiedenheit
ihrer einstigen Größe nach. Nur Hyperion, der Sonnengott,
ist noch im Vollbesitz seiner - freilich ebenfalls bedrohten -
Macht. Er wird von seinem Vater Coelus zum Widerstand ermutigt.
Im zweiten Buch richtet ein Titanenrat alle Hoffnung der geschlagenen
Riesen auf Hyperion. Doch während die Entmachteten, die meisten
dumpf vor sich hinbrütend, auf ihn warten, überrascht
Oceanus, der Vorgänger Neptuns, mit einem Plädoyer für
die neuen Götter, die in ihrer jugendlichen Schönheit
den alten überlegen seien. Seine Rede gipfelt in dem programmatischen
Satz:
Da Schönheit für Keats eine Funktion der Imaginationskraft
ist, kann John Keats also als einer der Urheber der Forderung
gelten: "Die Phantasie an die Macht!", wie sie etwa
im Pariser Mai '68 aufgetaucht ist. Doch war er allerdings, im
Gegensatz etwa zu seinen Zeitgenossen Shelley und Byron, alles
andere als ein politischer Dichter. Für ihn ging es nicht
darum, mithilfe unter anderem der Dichtung die Welt ins Bessere
umzugestalten, sondern diese eigentlich als solche unerträgliche
Welt in Dichtung zu verwandeln - die Welt als quälender Anlaß
und Antrieb, nicht aber als pragmatisches Ziel der Poesie.
Wenn Keats allerdings beansprucht, er habe "das Prinzip
der Schönheit in allen Dingen" geliebt, so kann
sich dieser Schönheitsbegriff nicht nur auf das durch intensive
Imagination geschaffene und in strenge lyrische Form sublimierte
Gebilde beziehen, sondern durchaus auch auf Gegenstände der
realen Welt. In erster Linie auf Frauen.
so lautet die erste Zeile in Keats erster bedeutenderer Publikation,
dem mehr als hundert Seiten umfassenden Versepos "Endymion":
Schönes gibt ewige Freude. Fanny Brawn, eine neue Nachbarin,
die aus einer Familie von Rittern, Äbten und Advokaten stammte,
lernte Keats kurz nach der Publikation des "Endymion"
kennen. Sie wurde seine Liebe - und mußte nun mit ihrer
Existenz für die Wahrheit dieses Satzes einstehen. Daß
er an ihr nichts als ihre Schönheit liebe, beschwerte sie
sich einmal, da hat sie wohl noch nicht verstanden - oder vielleicht
gerade! - welchen zentralen Stellenwert dieser Begriff für
Keats eben nicht nur für die Lyrik, sondern für sein
gesamtes Weltverhältnis hatte.
Denn diese Idee - Liebe als Liebe zur Schönheit, Schönheit
als Garant einer höheren Wahrheit, Schönheit als Religion
- wurde nun auf eine harte Probe gestellt. Der Kuß der Muse
mußte mit dem Zauber weicher Lippen wetteifern; schwieriger
aber noch: die Dauer des Kunstgebildes, die ersehnte Ewigkeit
des Werks und des Ruhms kämpfte mit der ewig latenten Unbeständigkeit
eines lebendigen Wesens. Für den dann bald todkranken Keats
hieß das: von Fannys Tugend hing sein Leben ab.
Was mag dieses junge, lebenslustige, einen sterbenden Dichter
liebenden Mädchen wohl empfunden haben bei Briefzeilen wie
diesen:
oder bei den Worten:
oder bei dem folgenden Brief vom Mai 1820:
Auch diese stärksten Liebesschmerzen der Ungewißheit,
der brennenden Eifersucht, der leidenschaftlichen Selbstvorwürfe
wegen der gleichwohl lebensnotwendigen Totalität des Anspruchs:
sie müssen, so die Hoffnung des Dichters, "in der Berührung
mit Schönheit und Wahrheit verdampfen", wenn intensive
Kunst sie ergreift - und so entstand vielleicht das folgende Sonett:
John Keats' Briefe an Fanny dienen nicht nur dem Erweis seiner
Liebe und dem egozentrischen Ausdruck seiner Eifersuchtsqualen
- sondern ebenso der verzweifelten Selbstberuhigung und, weit
vertrackter noch, dem paradoxen Versuch, die Geliebte zu vergessen,
wenigstens für eine Weile - wieviel mehr noch würde
er sie lieben, wenn sie ein Mittel wüßte, sich "aus
seinem Sinn" zu bringen!
heißt es einmal, und im selben Brief:
Wer weiß, ob der gequälte Dichter nicht tatsächlich
etwas beruhigter gewesen wäre, hätte seine Fanny der
verzweifelten Aufforderung Hamlets Folge geleistet oder gar das
Schicksal Ophelias auf sich genommen, im Wasser einfach zu verschwinden...
Ein Sonett scheint den Schmerz des verlorenen Glücks zu
beklagen, doch mehr noch die - erst durchaus lustvoll ausgemalte
- Erinnerung daran zu verfluchen:
Liebe - Ruhm - Poesie: das sind die drei Kernkomplexe oder
vielmehr ein einziger in sich verwickelter Komplex von Ideen in
Keats' Gedankenwelt. In der Vorstellung gibt die Liebe der Poesie
ein unerschöpfliches Thema - in der Realität lauert
die physische Gefahr des Kraftverlustes schon im Gedanken an die
Geliebte und damit der Verlust der Poesie und des Nachruhms, und
damit des einzigen "ewigen Lebens", an das der Dichter
glauben kann, dessen Religion in Liebe und Poesie eingegangen
ist.
Wie nahe Liebe und Religion für Keats beieinanderliegen,
ja ineinander aufgehen, zeigt auch das folgende Gedicht, das mit
- man möchte fast sagen: normalen - Bildern des wehmütigen
Erinnerns an einen glücklich verbrachten Tag beginnt und
in einem stillen Andachtsbild endet, das so merkwürdig sit,
daß dem Leser Zweifel kommen, ob die Süße des
Tages, die mit allen Sinnen genossene Anwesenheit der Geliebten
für einen zurückersehnten Zustand, das verlorene Paradies,
gelten sollen oder nicht doch für einen überwundenen,
in der Gebetshaltung endlich aufgehobenen.
In dem folgenden Gedicht "Entbrannter Stern" wird
noch deutlicher, worum es dem Dichter in der Liebe eigentlich
zu gehen scheint. Es ist die direkte, physische Teilnahme am Leben
der Geliebten, die ihm das Leben sichern soll und mehr noch als
das Leben - hier verschmelzen sinnliche Liebe und Religion - nämlich
ganz metaphysisch-transzendent: die Ewigkeit. Ohne das gefühlte
Atmen der Geliebten kein - sinnlich-übersinnliches - Leben.
"Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit",
heißt ein berühmter Vers Friedrich Nietzsches - in diesem eigentlich religiös-metaphysischen Sinne ist Keats ein Dichter der Lust. Moralische Unbeständigkeit der Geliebten ist ihm ein Greuel nicht wegen eines kleinlichen Anspruchs auf exklusives Eigentum an der Person, sondern weil sie die Qual an der Endlichkeit, der Vergänglichkeit verstärkt. In Liebe, Ruhm und Poesie versucht der romantische Dichter dieser metaphysischen Pein zu entgehen, indem er ihr Gestalt gibt. In der Liebe zu einer Frau ist diese Gestalt der Glaube an ihre Treue und Tugend auch gegen allen gegenteiligen Anschein des Realen, ein Glaube, der durchaus Züge theologischer Absurdität annehmen kann. Was den Ruhm angeht, so ist hier die Beziehung zur Ewigkeit offensichtlich: der Glaube an den Wert des eigenen Schaffens kann seine Bestätigung nur im absoluten Ruhm finden, der nur ein zeitloser Nachruhm sein kann; die wirkliche Reaktion des gegenwärtigen literarischen Publikums darf um des poetischen Genius willen keine Rolle spielen; es wird verachtet, ob es tadelt oder lobt. In der Dichtung wiederum sollen die strengsten klassisch-antiken Formen die Unabhängigkeit von der literarischen Mode behaupten und das absolute Überleben sichern.
Doch in allen drei Bereichen, in Liebe, Ehrgeiz und Poesie,
erweist die Endlichkeit sich als stärker als das Absolute,
und das nicht nur, weil der Dichter krank ist und keine Zeit hat.
So sucht er inständig nach einem Halt jeseits dieser drei
noch allzu irdischen Bestrebungen, nach Haltungen, die all das,
was ihm im Leben am wichtigsten ist, transzendieren und ihn der
verläßlichen Dauer versichern, die er so inständig
vermißt. Gesellschaftliche Bindung kommt für den Dichter
nicht infrage: er haßt alles, was nach "Häuslichkeit"
aussieht und schreibt etwa an Fanny, die auf so etwas möglicherweise
gehofft haben könnte:
Auch die Festigkeit des standhaften "Ich", die Identität, die geachtete, charakterfeste "Persönlichkeit" ist für Keats eine gesellschaftliche Rolle, die er ablehnt um der Sensibilität willen, die für die unendliche Verwandlungskraft der Poesie notwendig ist.
Eher kultiviert der Poet die sinnliche Auflösung der Reste
des bürgerlichen Ich in die augenblickshafte Wahrnehmung,
die sensualistische Verschmelzung mit ihrem jeweiligen Gegenstand,
wie es etwa die folgende Briefstelle andeutet:
Traditionelle Religion, die eigentlich für die so heiß
ersehnte Ewigkeit zuständig wäre, kommt für Keats
nicht infrage. Der Dichter sucht nach einem eigenen, eher mystischen
Ausweg, nach einem Zustand, der ihn, wie er sagt, "aus
dem Denken lockt." Das ist es wohl, was er begehrt, wenn
er "das Prinzip der Schönheit in allen Dingen"
zu lieben behauptet.
Doch macht Keats bei der Schönheit nicht halt - fällt
doch auch sie, gerade sie, der Vergänglichkeit anheim. Eine
traditionelle Haltung gegenüber der Eitelkeit alles Irdischen
ist die Melancholie - Robert Burtons "Anatomie der Melancholie"
aus dem frühen 17. Jahrhundert war ein Lieblingsbuch von
Keats. Der Dichter sieht sie als eine große Gefahr für
seine Seele; seine "Ode an die Melancholie" ist eine
einzige Warnung, sich nicht von ihr verführen zu lassen.
Alle Dinge und Ideen werden durch ihren Gebrauch verdorben; das gilt in erster Linie für die Liebe in ihrem persönlichen oder gar gesellschaftlich-"häuslichen" Vollzug, aber auch für den Ruhm in der literarischen Wirklichkeit und sogar für die Poesie, die formuliert und veröffentlicht wird. Die ungehörte Musik ist schöner als die gehörte! Das, wonach der Romantiker strebt, ist in Wahrheit nicht die Geliebte, die Berühmtheit, das Gedicht, sondern das Begehren nach Liebe, nach Ruhm, nach Poesie. Die Wahrheit des Begehrens ist nicht seine Erfüllung; sie liegt in ihm selbst. Der Romantiker liebt die Liebe, er sehnt sich nach der Sehnsucht, er begehrt intensiv das intensive Begehren - denn das allein sichert ihm die Ewigkeit in der Zeit, die Unendlichkeit im endlichen Dasein, die sinnliche Erfahrung der Transzendenz.
Das ist das Thema des - vor allem wegen seiner programmatischen Schlußzeilen "Schönes ist wahr und Wahres schön" - berühmtesten Gedichts von John Keats: der
John Keats wäre nicht der Dichter mit der unruhigsten
und unzufriedensten Seele, würde er sich beruhigen bei dieser
Lehre von der Einheit von Schönheit und Wahrheit und daraus
vielleicht ein Programm machen, etwa das einer permanenten Transzendierung
des Gegebenen in Richtung auf seine intensiv vorgestellte Möglichkeit.
Auch "das Begehren des Begehrens" ist nicht sein letztes
Ziel: der Kuß des ungestüm Liebenden in die Luft, der
endlos selig pfeifende Musikant, die ewige Jugend - schließlich
sind ihm sogar diese Bilder noch viel zu konkret. Der Dichter
sucht nach einer noch erhabeneren und weniger schmerzverliebten
Haltung, und er findet etwas, das wahrscheinlich ganz jenseits
seiner psychischen und am Ende auch physischen Möglichkeiten
stand, das er sich aber immerhin intensiv vorstellen konnte. Er
findet einen "wahren Glückszustand" und nennt ihn:
Lässigkeit. Oder auch: Muße. Oder gar: Faulheit - je
nachdem, wie man "indolence" übersetzen möchte.
Es gibt eine Briefstelle, die, auch wenn sie das Gedicht "Ode
on Indolence" nicht erwähnt, doch als dessen Entstehungsgeschichte
gelesen werden kann; darin beschreibt der Dichter einen morgendlichen
Wachtraum:
Und nun das Gedicht, die "Ode auf die Lässigkeit", das in einem Untertitel das Jesuswort von den Lilien auf dem Felde aus dem Matthäuskapitel zitiert:
"Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht."
Es zeigt sich - aber auch das ist natürlich nur ein Aspekt
der so vielfältig schillernden, widersprüchlichen Gestalt
des Poeten John Keats, der nach Ruhm strebt, aber die Berühmtheit
verachtet - der sich nach Liebe verzehrt, aber die Frauen haßt
und auch seine Geliebte beargwöhnt - der die menschliche
Natur bewundert, aber die Menschen nicht mag - der für die
Dichtung leben will, aber durchaus auch von Zweifeln geplagt wird,
ob der romantische Dichter die Welt nicht nur quäle und das
Böse noch schlimmer mache - ; es zeigt sich also, daß
der Dichter der Intensität, des Begehrens um seiner selbst
willen, daß dieser forcierte, mystische und manchmal ekstatische
Romantiker auch noch eine ganz andere Sehnsucht kennt und bekennt:
die nach einem angenehmen, nicht gerade arbeitslosen, aber doch
unangestrengten Leben. Ausführlich handelt davon ein Brief
an seinen Freund John Hamilton Reynolds vom Mai 1818:
Nachweise
1) Febr. 1820; Briefe an Fanny Brawn, München 1986, S. 79
2) John Keats, Gedichte, Frankfurt a.M./Leipzig (Insel) 1995, S. 40
3) März 1820; Fanny S. 90
4) Insel S. 41
5) Ode to Fanny; John Keats, Oxford 1990, S. 454
6) Insel S. 42
7) Brief an Bailey v. 18. Juli 1818; Fanny S. 160
8) Brief an Taylor v. 24. August 1819; Fanny S. 171 f.
9) Brief an Reynolds v. 3. Mai 1818; Fanny S. 148
10) Insel S. 28
11) Insel S. 23
12) zit. in: Briefe an Fanny Brawne, Umschlag
13) 17. August 1819, Fanny S. 55
14) Fanny S. 176
15) Letters I, 387; zit. in: Helmut Viebrock, Schöpferischer Identitätsverlust, Wiesbaden 1984; S. 198
16) Brief an Dilke v. 21. September 1818; Letters I, 369; zit. Viebrock a.a.O., S. 199
17) Brief an Woodhouse v. 27. Oktober 1818; Letters I, 386 f.; zit. Viebrock, a.a.O., S. 197
18) Brief an Bailey; Fanny S. 130
19) zit. v. Erich Zauner, Muse oder Antimuse, Wien 1990, S. 7
20) Brief an Bailey v. 22. November 1817; Fanny S. 131 ff.
21) John Keats, Gedichte, München 1995 (Manesse), S. 201
22) Brief v. 27. Dezember 1817; Letters I, 192; zit. Viebrock, a.a.O., S. 209)
23) Oxford-Ausg. S. 61
24) Brief v. 5. Juli 1820; Fanny S. 111 f.
25) Brief vom August 1820; Fanny S. 119
26) Mai 1820; Fanny S. 105 ff.
27) Insel-Ausg. S. 37
28) August 1820; Fanny S. 118 f.
29) Insel-Ausg. S. 31
30) 17. August 1819, Fanny S. 58
31) 3. September 1819; Fanny S. 59 f.
32) zit. in: Fanny, Umschlag
33) 13. Oktober 1819; Fanny S. 64
34) Insel-Ausg. S. 34
35) Insel-Ausg. S. 35
36) 15. August 1819, Fanny S. 52
37) Brief an Bailey; Letters I, S. 186; zit. Viebrock, a.a.O., S. 200
38) Insel-Ausg. S. 51
39) Oxford-Ausg. S. 249
40) Insel-Ausg. S. 53 ff
41) Brief v. 19. März 1819, Letters II, 78 f.; zit. Viebrock a.a.O., S. 206
42) Insel-Ausg. S. 48
43) Brief an Reynolds v. 19. Februar 1818; Fanny S. 137 ff.
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