Harry TimmermannBUCHZEIT
Hartmut LangeSchnitzlers WürgeengelDiogenes Verlag
Die Gestalten Hartmut Langes sind verstört. Geradenoch funktionieren sie in ihrer Umgebung soweit, daß sienicht zu kriminellen oder psychiatrischen Fällen werden,doch irgendetwas bricht in ihr Leben ein, nein: das klingt schonzu gewaltsam - ; etwas geschieht ihnen, und sie fallen allmählichheraus aus dem Gewohnten; scheinbar ohne Grund tun sie etwas Unerwartetes."In der Unheimlichkeit steht das Dasein ursprünglichmit sich selbst zusammen"; dieser Satz MartinHeideggers ist als Motto den neuen Novellen Langes vorangestellt.Die "Verfallenheit des Daseins an das Man" hat Heideggerals Flucht vor dem eigentlichen Seinkönnen interpretiert,als Flucht in Hektik und gesellschaftliche Betriebsamkeit, getriebenvon der Furcht vor der Vereinzelung. Die Angst dagegen, die dasUnheimliche hervorrufen kann, ist von wesentlich anderer, fundamentalererArt: sie, so Heidegger, "vereinzelt das Dasein auf sein eigenstesIn-der-Welt-sein", sie erschließt "das Daseinals Möglichsein und zwar als das, das es einzig vonihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann".Herr Semmering, ein Richter im Ruhestand in HartmutLanges Novelle "Herr Semmering", findet es in Ordnung,wenn ihn niemand mehr grüßt und er mutterseelenalleinauf immer denselben Wegen spazieren gehen kann. Seine Geschichtekommt aber erst dadurch in Gang, daß Semmering immer nochnicht allein genug ist, und daß er noch Wünsche undBefürchtungen hat. Der Pensionär möchte endlicheinmal richtig Urlaub machen. Oder die Menschen kennenlernen,mit denen er Tür an Tür wohnt. Doch die schon gebuchteReise storniert er und begibt sich stattdessen in ein Seniorenheim,um sich für die Zukunft schon einmal dort anzumelden. DieNachbarsfamilie, die er gerade erst wahrgenommen hat, zieht plötzlichaus, und ihm bleiben nur Fotographien. Und auch die Anmeldungfürs Seniorenheim, seine Sicherung der Zukunft, wird wiederzurückgenommen. Schließlich gibt es für ihn nurnoch den geheimnisvollen Fremden, der in einer Hütte im Grunewaldhaust. Zu dem pilgert Semmering, um ihm Kleidungsstücke undnach und nach seine Ersparnisse auszuhändigen. Die Erzählungläßt es offen, ob diese Handlungsweisen Zeichen derResignation sind oder der Befreiung zu einem neu entdeckten, "eigentlichen"Selbst, und wenn Semmering am Ende auch im Grunewald allein ist,bewegungslos dasitzt und wartet, fast zu einer Fotographie erstarrt,so ist es nicht entschieden, ob er hier den Nullpunkt oder denHöhepunkt seines Daseins erfährt - oder beides zugleich.
In der Titelgeschichte "Schnitzlers Würgeengel"erscheint die Todesangst des Dichters als ein Schatten im Hintergrunddes Korridors seiner Villa in Wien. Ein Schatten, "eigentlichetwas Helles, Hochaufragendes", den schließlich auchder Ich-Erzähler sieht, der gegenwärtige Dichter, der,zeitversetzt, sich als Gast in Schnitzlers Haus imaginiert. Dorterlebt er das Wirken des "Würgeengels", der esnicht zuläßt, daß Schnitzler über die Schwelleseines Hauses tritt, nicht einmal zu einem Spaziergang im eigenenGarten; er ist darin gefangen im Oktober 1931 und kommt erst alsLeiche dort heraus, getragen von mehreren Männern. Dies wiederumsieht der Erzähler, stillgestellt, abgebildet auf einem Fotoin einem Schnitzer-Bildband.
Langes Novellen sind Geschichten, die nach einem Bildstreben, das, in sich doppeldeutig, die Furcht vor dem Ende oderdie Sehnsucht nach einem absoluten Neubeginn symbolisieren kann,die gerade noch etwas zu erzählen findet, ohne die Dingein eine schwindelerregende Schwebe zu versetzten, aber auch ohnesie ganz stillzustellen oder gar festzulegen. Am Ende der Novelle"Schnitzlers Würgengel" , als der Ich-Erzählersich den Schnitzler-Bildband ansieht, erinnert der Autor zartan eine in der novellistischen Tradition nicht unbekannt Funktiondes Erzählens, wenn es heißt:
"Es muß Ende Oktober sein", dachteich und deckte mit der Hand rasch, um es ja nicht lesen zu müssen,das Datum seines Todes ab."
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