Harry Timmermann

BUCHZEIT

Ingo Schulze

33 Augenblicke des Glücks

Berlin-Verlag

September 1995

"Freundchen, Sie müssen mal etwas anderes lesen alsIhre Zeitung," sagt Mitja. "Ich erzähl den Schneevon vorgestern, und Sie staunen."

Mitja ist Pressefotograf in St. Petersburg, der Zarenstadtan der Newa und schönsten Stadt Rußlands, die, glaubtman den Zeitungen, zur Hauptstadt der russischen Mafia gewordenist. Mitja ist auffällig oft zur Stelle, wenn wieder jemandumgebracht wird; ohne seine Fotos direkt von den Tatorten wäredie Mafia, so der journalistische Erzähler, schon längstaus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden, da dieentsprechenden Meldungen kaum noch jemand liest. Und doch behauptetMitja, nicht gegen die Mafia zu kämpfen; denn er könnenicht gegen etwas kämpfen, was es gar nicht gebe. "Ichbin die Mafia. Sie sind die Mafia, die hier sind die Mafia, jederist die Mafia, so ist das, nichts weiter." Mitja bekommtTips von Unbekannten, immer anderen, wo wieder etwas passierenwird, und er bezahlt sie für die Tips vom Geld für dieFotos. Das gehört alles zum System. Und irgendwann ist derFotograf natürlich selbst an der Reihe, ermordet zu werden.Und der Journalist, der das alles wissen wollte, muß umsein Leben ballern. Ein Abenteuer im Wilden Osten.

Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren, studierte in JenaKlassische Philologie, war Dramaturg am Landestheater in Altenburgund lebt heute in Berlin. Im Rahmen seiner Theaterarbeit verbrachteer 1993 ein halbes Jahr in St. Petersburg. Sein erstes Buch, dasihm schon den Alfred-Döblin-Preis und den dritten in Klagenfurteinbrachte, nannte er "33 Augenblicke des Glücks"und gab ihm den Untertitel: "Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungender Deutschen in Piter".

Abenteuerlich ist das Buch in vielfacher Hinsicht. Da ist zunächstdie mehrfache Staffelung der Urheberschaft der hier versammeltenGeschichten: der Autor gibt sich als Herausgeber von Blättern,die ihm eine Frau schickte, die sie in einem Zug von Berlin nachPetersburg gefunden hat, liegengelassen von einem geheimnisvollenFremden, der sie wiederum nur teilweise selbst verfaßt hat;manche Episoden sollen ihm von Geschäftsfreunden und Bekanntenzugesandt worden sein. Und dann wird dieser Fremde namens Hofmannauch noch als jemand geschildert, der zugibt, daß er seinerNeigung, Erfindung anstelle der Recherche zu setzen, oft nachgegebenhat: weiter kann man die romantische Distanzierung der Autorschaftkaum treiben. Dieser mehrfache Rahmen nun verklammert sehr unterschiedlicheProsastücke: es gibt romantische Novellen, in denen Wunderbar-Phantastischesin reales Geschehen einbricht und es in Erschreckend-Groteskesverzerrt oder in Heilig-Schauerliches verklärt; es gibt spannendeKurzkrimis, die bis zuletzt die Frage offenlassen, wer wen hintersLicht führt; es gibt den inneren Monolog einer einsamen Büroangestellten,die mühsam eine fast rituelle Alltagsordnung versucht aufrechtzuerhaltengegen das äußere Chaos; es gibt Miniatursequenzen ausdem Milieu, in denen völlig rätselhaft bleibt, was eigentlichgeschieht: klar wird nur die Atmosphäre des Kriminellen -und Episoden, die wirken wie erstarrte Szenen, Gemälde desUnheimlichen.

Es gibt noch etwas anderes jenseits der vertrackten Erzählkonstruktion,das diese heterogenen Teile zusammenhält und jene - vielleichtbei etwas mehr Vertrauen des Autors in den Eigenwert seiner Geschichten- beinahe überflüssig macht: das ist der Geist des gegenwärtigenRußlands in St. Petersburg, den das Abenteuer des Schreibenshier erkundet. Es scheint vor allem ein Geist der Wiederkehr vonTotgeglaubtem oder Totgeschwiegenem zu sein. Wenn nach jahrelangerÖde ein Museum plötzlich zum Wallfahrtsort wird, weileine Madonnenikone Wunder tut; wenn eine junge Frau, die auf einemöffentlichen Platz einen halbtoten alten Mann beschläftund auf diese Weise ins Jenseits geleitet, als Heilige gefeiertwird, so schildern solche Wundergeschichten das Aufbrechen einerarchaisch-religiösen Schicht im russischen Volk. Der Faschistmit der Lust, irgendetwas zu töten, der den Geschmack vonScheiße entdeckt und seine geprügelte Frau grundsätzlichvon hinten besteigt; der Geschäftsmann, der dem Gast ausdem Westen nicht nur in seine Datscha einlädt, sondern auchin seine Frau; die mit Waffen handelnde Kinderbande, aber auchdas idyllische alte Ehepaar beim beschaulichen Abendspaziergangam Fluß, das eine junge Pistolenhändlerin anlockt undbrutal ermordet: in Schulzes Erzählungen erscheinen dieseFiguren nicht so sehr als Repräsentanten oder Opfer einerbestimmten politischen Situation, sondern eher wie mythologischeGestalten in einem unausweichlichen und verhängnisvollenGeschehen.

Der geheimnisvolle Autor Hofmann - der Name erinnert natürlichnicht zufällig an den deutschen Grotesken-Romantiker - hatsich im erwähnten Zuggespräch auch als Literaturliebhaberzu erkennen gegeben, und wer will, mag den vielen ausgelegten,zum Teil vom Herausgeber kommentierten Spuren nachgehen, die zuPuschkin, Tschechow, Nabokov, Chlebnikow, Bulgakow oder DaniilCharms führen - auch dies ein Aspekt des Abenteuerlichenin diesen "abenteuerlichen Aufzeichnungen" Ingo Schulzes.Sie sollen, so der fiktive Herausgeber, nicht nur unterhalten,sondern "die anhaltende Diskussion um den Stellenwert desGlücks" beleben. Auf jeden Fall ist dieses Erstlingswerkgeeignet, den Stellenwert neu zu bedenken, den die Literatur fürdas Glück haben kann: wird hier doch in zugleich raffinierterund spannender Weise daran erinnert, daß es immer noch möglichist, über bloß journalistische Recherche hinaus einefast fremde Welt zu erfahren und mit den Mitteln der Literaturihre Tiefenschichten auszuloten.

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