Die Entstehung des englischen Schauerromans, der
sogenannten "Gothic Navel", läßt sich, wie
bei kaum einem literarischen Genre sonst, auf den Tag, ja auf
die Nacht genau angeben. Ein Traum ist sein Ursprung, geträumt
wahrscheinlich in der Nacht vom 4. zum 5. Juni 1764, ein Sommernachtstraum
des sechsundvierzigjährigen Politikersohnes und Schloßherrn
von "Strawberry Hill" Horace Walpole. Im Brief an einen
Jugendfreund, geschrieben am 8. März 1765, kurz vor der Drucklegung
der zweiten Auflage des Romans: "Die Burg von Otranto",
schildert der Verfasser diesen Traum und seine Folgen:
"Deine Sympathie für mich und Strawberry haben Dich, so hoffe ich, geneigt gemacht, das Ungeschlachte der Geschichte zu entschuldigen. Du wirst wohl auch einige Züge gefunden haben, die Dich an diesen Ort erinnern. Hast Du während des Lesens, wie das Bild aus dem Rahmen steigt, Dich nicht an das ganz in Weiß gehaltene Portät des Lord Falkland in meiner Galerie erinnert? Soll ich Dir gestehen, was der Ursprung dieser romanhaften Geschichte gewesen ist? Ich erwachte eines Morgens zu Anfang des vergangenen Juni aus einem Traum, von dem ich nur soviel zurückbehalten habe, daß ich mich in einen alten Kastell wähnte (ein sehr natürlicher Traum für einen Kopf, der so wie der meine mit gotischer Historie vollgestopft ist) und daß ich dabei auf dem obersten Geländer eines mächtigen Treppenhauses eine riesenhafte, gewaffnete Hand aufruhen sah. Noch denselben Abend setzte ich mich nieder und begann zu schreiben, ohne im mindesten zu wissen, was ich sagen oder berichten wollte. Das Werk wuchs mir unter den Händen, und es wurde mir immer lieber - bedenke, daß ich über alles lieber nachdenken wollte als über Politik! - , kurz, ich war so in meiner Erzählung versunken, die ich in weniger als zwei Monaten fertigstellte, daß ich an einem Abend vom Zeitpunkt an, als ich meinen Tee getrunken hatte, gegen sechs Uhr, schrieb bis gegen halb eins am anderen Morgen, bis mir Hand und Finger so müde und steif geworden waren, daß ich die Feder nicht mehr halten konnte, um wenigstens den Satz zu beenden, sondern Matilda und Isabella im Gespräch zurücklassen mußte, mitten in einem Absatz. Du wirst aber meinen Ernst lachen. Wenn ich Dir aber die Zeit mit einer leidlich getreuen Schilderung der Sitten in den alten Zeiten vertrieben habe, bin ich es zufrieden, und Du magst mich dann für so kindisch und unnütz halten, wie es Dir beliebt."'
Für "kindisch und unnütz" gehalten zu werden, das war eine reale Gefahr für den Ruf eines Autors in einer Zeit, die so sehr auf den Fortschritt der Vernunft eingeschworen war, auf eine wachsende, erwachsene Befreiung von "mittelalterlichem" Spuk und Aberglauben, daß sie zu verbannen suchte, was der Wahrscheinlichkeit in der Ordnung der Dinge und Geschehnisse widersprach. Wunder hatten selbst in den ureigensten Medium der Phantasie, dem Roman, keinen Platz mehr, wurden als leere Phantastereien und Rückfälle in eine barbarische Verfallenheit an die Unvernunft verpönt. Ein Porträt, das lebendig aus seinem Rahmen steigt, ein sprechendes Skelett unter einer Mönchskutte- solche Geistererscheinungen, wie sie in der "Burg von Otranto" die Protagonisten in Angst und Verwirrung versetzen, mußten Anstoß erregen zumindest bei den gestrengen Verfechtern der Aufklärung mit ihrem Grundsatz der Wahrscheinlichkeit und Natürlichkeit der Darstellung. 1750 hatte einer von ihnen, der führende Kritiker und Herausgeber moralisch-didaktischer Wochenschriften Samuel Johnson, in seiner Zeitschrift "The Ranbler" diese inzwischen schon allgemeine Auffassung über die zeitgemäße Romankunst folgendermaßen charakterisiert:
"Die Werke der Erzählkunst, an denen sich
die gegenwärtige Generation am meisten zu erfreuen scheint,
sind so geartet, daß sie das Leben nach seinen wahren Verhältnissen
darstellen, unterschieden nur durch Vorfälle, wie sie täglich
auf der Welt sich ereignen, und bewegt von Leidenschaften und
Eigentümlichkeiten, welche wirklich im Umgang mit den Menschen
zu finden sind... Ihre Stärke ist es, natürliche Geschehnisse
mit leichter Hand zustande zu bringen und die Neugierde aufrecht
zu erhalten, ohne zu Wundern ihre Zuflucht zu nehmen: darum sind
sie allen Maschinerien und Hilfsvorrichtungen des heroischen Romans
verschlossen, sie können weder Riesen in Sold nehmen, um
eine vornehme Dame aus den Hochzeitsfeierlichkeiten hinwegzureigen,
noch fahrende Ritter, um sie aus der Gefangenschaft wieder zurückzubringen,
sie können weder ihre Personen in die Einöde verbannen
noch sie in imginäre Schlösser einquartieren."'
Die psychologisch-sentimentalen Brieframane Samuel Richardsons, die komischen Prosaepen Henry Fieldings und die Schelmenromane Tobias Smollets sind, bei aller Verschiedenheit, gemeinsamer Ausdruck dieses neuen, gerade erst stabilisierten Realitätsbewußtseins im Roman und seines Anspruchs auf getreue Nachahmung der Erfahrungswirklichkeit. Und doch nennt etwa Lord Byron, als hätte es Richardson, Fielding und Smollet und auch Lawrence Sterne, nicht vor Walpole gegeben, diesen den "Vater des ersten Romans " Englands. Mit "Roman" kann Byron hier nur die durch Walpole zu neuem Leben erweckte Gattung der Phantastik und des Wunderbaren und nicht die der Wirklichkeitsabbildung meinen. aber Walpoles Stellung in der englischen Literaturgeschichte schreibt der Romantiker Byron 1821 (in der Vorrede zu seiner Tragödie "Narino Faliero):
"Es ist heute Mode, Horace Walpole zu unterschätzen, erstens, weil er ein Adliger, und zweitens, weil er ein vornehmer Charakter war. Aber, von der schöpferischen Leistung seiner unvergleichlichen Briefe und seines 'Kastell von Otrantol , ist er der Ultimus Romanorum, der Verfasser der "Geheimmisvollen Mutter", einer Tragödie höchsten Ranges und nicht einfach eines bedenklichen Theaterstücks um Liebe. Er ist der Vater des ersten Romans und der letzten Tragödie in unserer Sprache, er verdient sicher einen höheren Platz in unserer Achtung als irgendein lebender Autor, wer es auch sei."'
Auf Walpoles Greueldrama "Die Geheimnisvolle Mutter" kommen wir noch zu sprechen; worum geht es nun aber in der berühnten "Burg von Otranto"?
Eine merkwürdige, doppelte Prophezeiung lastet auf dem Burgherrn Manfred: sein Stamm müsse die Herrschaft über Otranto verlieren, sobald der wahre Besitzer über die Burg hinausgewachsen sei; nur solange ein männlicher Erbe vorhanden ist, so der zweite Teil des Orakels, könne der Untergang aufgehalten werden. Eilig will Manfred seinen einzigen, schwächlichen Sohn verheiraten: da wird dieser am Tag der Hochzeit tot aufgefunden, erschlagen von einem riesigen Helm. Ohne sich mit der Trauer um seinen geliebten Sohn weiter aufzuhalten, beschließt Manfred sofort, selbst an dessen Stelle zu treten und Isabella, die Braut des Sohnes, zu ehelichen - die flieht jedoch vor diesem infamen Ansinnen durch unterirdische Gewölbe von der Burg in eine Kapelle. Der Ahnherr Ricardo war es, der zuvor seufzend aus dem Rahmen seines Porträts herausgestiegen war, als Manfred Isabella seinen Vunsch vortrug. Der Hirte Theodore hilft Isabella bei der Flucht. Er ist es gewesen, der als erster auf die seltsame Ähnlichkeit des Riesenhelms mit dem Helm der Statue von Alfonso dem Guten in der Kirche Santa Nicola hingewiesen hat und dafür von Manfred der Zauberei angeklagt worden und bestraft worden war. Alfonso, so klärt sich später auf, war der Ahnherr der Dynastie und also des rechtmäßigen Besitzers der Burg, der von seinem Vertrauten Ricardo bei einem Kreuzzug vergiftet worden war. Immr mehr ins Riesenhafte verzerrte Teile der Statue erscheinen und jagen den Burgbewohnern Schrecken ein: eine bewaffnete Hand, ein Bein werden gesichtet, ein kolossales Schwert wird gebracht. Manfred ist zwar immer mehr verunsichert von diesem Popanz an Schicksal, bleibt jedoch bei seinen Plänen und läßt Isabella weiter suchen. Friedrich, der Fürst von Vicenza und Isabellas Vater, erreicht mit kriegerischen Rittern die Burg und verlangt die Herausgabe seiner Tochter und den Verzicht Manfreds auf das Fürstentum von Otranto. Es gelingt dem Burgherrn jedoch, Friedrich umzustimmen, indem er ihm seine eigene Tochter Natilda anbietet im Tausch gegen Isabella. Friedrich will Manfred schließlich sogar helfen, dessen Frau Rippolita zur Scheidung zu überreden.
"Sobald sich die Gesellschaft zerstreut hatte, verließ Friedrich sein Zimmer und erkundigte sich, ob Hippolita allein sei. Eine ihrer Zofen, die nicht gesehen hatte, wie sie auf die Mauern ging, sagte dem Marchese, daß sie sich zu dieser Stunde gewöhnlich in ihre Kapelle zurückziehe und wahrscheinlich dort zu finden sei. Friedrich hatte während des Mahles Matilda mit wachsender Zuneigung beobachtet. Es war jetzt sein Wunsch, Hippolita so gesonnen zu finden, wie Manfred verheißen hatte. Die schlimmen Zeichen, die ihn beunruhigt hatten, waren über seinen Wünschen vergessen. Er stahl sich heimlich zu Hippolitas Gemach und trat ein mit dem Vorsatz, sie in ihrer Bereitschaft zur Scheidung zu bestärken, nachdem er gemerkt hatte, daß Manfred entschlossen war, ihm nur dann Matilda zu geben, wenn er selbst Isabella bekäme.
Es wunderte den Marchese nicht, daß im Gemach der Fürstin Stille herrschte. Da er sie, nach dem, was man ihm gesagt hatte, in ihrer Kapelle glaubte, ging er dorthin. Die Tür war angelehnt, die Nacht dunkel und der Himmel bedeckt. Er stieß die Tür vorsichtig auf und sah jemanden vor dem Altar knien. Als er nähertrat, schien es ihm nicht eine Frau zu sein, sondern ein Mann in einem langen wollenen Mantel, der ihm den Rücken zukehrte. Er schien ganz im Gebet versunken. Der Marchese wollte gerade umkehren, als die Gestalt sich erhob und einige Augenblicke in Gedanken verloren verweilte, ohne ihn zu sehen, Der Marchese glaubte, der fromme Mann würde nähertreten und wollte sich wegen seiner ungebührlichen Störung entschuldigen. 'Ehrwürdiger Pater', sagte er, 'ich suchte die Fürstin Hippolita.'
'Hippolita!' erwiderte eine hohle Stimme. 'Bist du auf diese Burg gekommen, um Hippolita zu suchen'?' Und als sich dann die Gestalt langsam umwandte, erblickte Friedrich die Kieferknochen und leeren Augenhöhlen eines Totenschädels, den eine Eremitenkapuze umhüllte.
'Engel des Himmels, steht mir bei!' rief Friedrich zurückweichend.
'Sei Ihres Schutzes würdig", sagte das
Gespenst.
Friedrich fiel auf die Knie und flehte das Phantom
an, Mitleid mit ihm zu haben."
Besinnungslos wird Friedrich von Hippolita aufgefunden.
Währenddessen wurde Manfred, der immer noch Isabella suchte, gemeldet, daß eine Frau mit dem Hirten Theodore in Alfonsos Grabkapelle Santa Nicola sei. Rasend vor Eifersucht stürzt der Tyrann in die Kirche und stößt die Frau nieder in den Glauben, es sei die rebellische Isabella, findet dann aber in der Niedergestochenen seine eigene Tochter Matilda. Theodore versucht Matilda noch im Sterben zu heiraten und gibt sich dabei als der wahre Fürst von Otranto zu erkennen - da ist sie schon verschieden.
Man hört wieder das Rasseln der Riesenrüstung.
"Den Augenblick, da Theodore in Freien erschien, wurden die Mauern des Kastells hinter Manfred mit unerhörter Gewalt niedergeworfen, und die Gestalt Alfonsos, zu ungemessener Größe gewachsen, erhob sich mitten aus den Ruinen. 'Gewahrt in Theodor den wahren Erben Alfonsos!' rief die Vision. Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, flog sie, von einem Donnerschlag begleitet, feierlich zum Himml auf, wo sich die Wolken öffneten und die Gestalt des heiligen Nikolaus sichtbar wurde. Er nahm Alfonsos Schatten auf, und schon waren beide im Glanz der himmlischen Glorie den menschlichen Augen für immer entzogen."'
Die Zeitgenossen hat dieses Werkchen wohl nicht das Grauen, aber doch das Gruseln gelehrt. Thomas Gray, ein Freund des Autors, erzählt in einem Brief an Walpole, manche Freunde hätten nach der Lektüre ein wenig geweint, und alle seien ängstlich zu Bett gegangen. Besonders die Angst der fliehenden Isabella in den Kellergewölben habe ihnen an die Seele gegriffen.
Walpole hat seinen Roman zunächst nicht unter eigenem Namen veröffentlicht: er gab ihn als eine Übersetzung aus dem Italienischen von 1529 heraus. Erst im Vorwort zur zweiten Auflage, ermuntert durch den Erfolg, bekannte er sich als Verfasser. Er war wohl selbst überrascht, daß seine private Marotte, "gotisierende" Phantasien ohne Anspruch auf einen größeren Wert als den der Unterhaltung einiger Freunde zu schaffen, so großen Anklang fand.
Zur Zeit der Erscheinung der "Burg von Otranto" war das "Gotische" als Manier - die willkürliche Verbrämung mittelalterlicher Elemente - schon beinahe wieder aus der Mode. Bereits 1753 hieß es in der Zeitschrift "The World":
"Noch vor ein paar Jahren war alles gotisch, unsere Häuser, unsere Bettgestelle, unsere Bücherschränke und unsere Sitzmöbel waren alle nach dem einen oder anderen Detail unserer alten Kathedralen nachgeahmt... So sonderbar das scheinen mag, so unwürdig das auch des Ehrennamens 'Geschmack' ist, diese Mode wurde gepflegt und bewundert. Sie hat noch heute ihre Anhänger in manchen Gegenden Englands. Sie behaupten, darin stecke eine geheime Ähnlichkeit zu unserer alten gotischen Verfassung; ich glaube viel eher zu unserer heutigen Vorstellung von Freiheit, die jedem das Privileg einräumt, den Hanswurst zu spielen und sich auf die ihm eigentümlichste Weise lächerlich zu machen."'
Horace Walpole hat das Reich des Ästhetischen an den Rändern erweitert, wo das Erhabene ins Lächerliche überzugehen beginnt, in den Kitsch, in die schlechte Tagesmode von gestern. Er hatte ein Gespür für Schund. Indem er die Monstren und Fratzen, die Märchenwunder und grotesken Erfindungen einer versunkenen Vorzeit wiederbelebte, wurde er zum Wegbereiter einer Romantik, die sie als Dämonen der unteren Schichten des Bewußtseins interpretierte - für Walpole selbst jedoch ging es nicht um psychologische Tiefenschürfung und die Freisetzung seelischer Energien aus dem kollektiv Verdrängten, sondern um das eigensinnige Spiel mit den Grenzen des Geschmacks. Vernunftgesetz und gesellschaftliche Konvention werden nicht frontal angegriffen oder genialisch ignoriert, sondern bloß ein wenig provoziert, ohne sie wesentlich verletzen oder fundamental infrage stellen zu wollen. Zwar rechtfertigt der Autor sein ästhetisches Verfahren in Vorreden und zeigt durchaus ein Interesse daran, richtig verstanden zu werden, doch kümmert er sich nicht weiter darum, seinen persönlichen Geschmack öffentlich durchzusetzen und zum Maßstab für künftige Werke zu erheben: einzig um die Behauptung seiner privaten Marotte, um das Recht auf ästhetischen Eigensinn geht es ihm, nicht um die Begründung einer neuen Gattung. Daß er mit seinem Schauerroman dann durchaus stilbildend gewirkt hat, lag nicht in seiner Absicht.
Walpole war kein Schriftsteller von Profession, wenn er auch die meiste Zeit seines Lebens mit Schreiben verbracht haben muß, was allein die 48-bändige Ausgabe seiner Briefe dokumentiert - die größte des briefeschreibenden Säkulums und eine unerschöpfliche Quelle für das Studium der Geschichte des 18. Jahrhunderts. Der Sohn des einflußreichsten Politikers seiner Zeit im britischen Weltreich, des Whig-Ministers Robert Walpole, sah sich in erster Linie selbst als Parteipolitiker, wenn er auch als ein geheimer Ratgeber eher im Hintergrund wirkte, an der Karriere seines bewunderten Vetters Henry Conway arbeitete und selbst keinen Kabinettsposten beanspruchte. Literat, Baumeister und auch Kleinverleger war Walpole privat. Gerade daß er daraus keinen Beruf machen wollte, hat es ihm ermöglicht, ästhetisch zum Exzentriker zu werden und darin, beinahe ungewollt, Kunst- und Literaturgeschichte zu machen.
Aus den Privatesten und Unverbindlichsten - einem Traum - und dem um literarische Dogmen unbekümmerten Festhalten an der einmal gefaßten Inspiration ist "Die Burg von Otranto" entstanden, Europas erster Schauerroman. Und eine private Traumwelt schuf sich Walpole mit dem Umbau eines kleinen Hauses an der Themse zu "Strawberry Hill", einem bizarren Kastell, mit dem er die Wiederentdeckung des feudalen Mittelalters in Europa architektonisch einleitete. Ein Jahr vor dem Roman war der Umbau fertiggestellt worden. Besucher ermahnte der Bauherr:
Dieses seltsamste Privatgebäude seiner Zeit bestand aus einer völlig willkürlichen Kombination von mittelalterlichen Zitaten, ohne ein vermittelndes Prinzip als dem der bizarren Unregelmäßigkeit.
"Die Decke ist von einem Seitenschiffe in der Kapelle Heinrichs VII. in Westminster abgenomen... Die große Eingangstür ist nach dem Nordportal der Kathedrale von St. Alban's kopiert, und die beiden kleineren Seitentüren gehören in den gleichen Zusammenhang. Die Seite mit den tief eingeschnittenen Nischen, die mit goldenem Netzwerk über Spiegeln geschmückt sind, stammt vom Grabmal des Erzbischofs Bouchier in Canterbury... Der ganze Raum ist mit karmesinfarbenem Damast aus Norwich ausgeschlagen; desgleichen die Stühle, Polsterbänke und Sessel, aufgezogen auf schwarze und goldene Holzrahmungen."'
Aus einer frühen Bauphase stammt die folgende Darstellung von "Strawberry Hill":
"Die Ansicht des Kastells ist von außen alles, was bisher fertig geworden ist. Es ist die einzige Seite, die regelmäßig gebildet wird. Davor ist ein locker angepflanzter Hain, durch den man auf eine Grasfläche hinausblickt; die Aussicht wird durch ein malerisches Wäldchen aus den verschiedensten Baumarten, Blütensträuchern und Blumen begrenzt, mit einem sich schlängelnden Weg dazwischen...Laß uns nun einen gemeinsamen Spaziergang ins Innere unternehmen. Das Erkerfenster im Parterre führt uns in einen kleinen Salon, der mit einer steinfarbenen gotischen Tapete verkleidet ist und mit Jacksons venezianischen Holzstichen, die ich nie habe leiden können, weil sie angeblich nach Tizian gestochen sind in all ihrer Erbärmlichkeit. Jetzt aber, da ich ihnen den Charakter barbarischer Steinreliefs verliehen habe, wirken sie wahre Wunder. Niemand würde beim ersten Anblick zweifeln, daß es sich bei ihnen um Darstellungen aus der Geschichte, um Attila oder Totila handelt, ausgeführt zu ihren Lebzeiten. Von da aus fuhren uns zwei düstere Bogen in die Eingangshalle und ins Treppenhaus, das man dir nicht hinreichend beschreiben kann, ist es doch die eigenwilligste und Hauptschönheit meines Kastells. Stelle dir die Wände bedeckt mit (ich will es einmal Papier nennen, in Wahrheit aber ist es bemaltes Papier mit perspektivisch behandelten Mustern, die gotisches Maßwerk darstellen) mit gotischem Tagwerk also vor, dazu die zierlichste gotische Balustrade entlang der Treppe, verziert mit Antilopen, die Schilde tragen, Spitzbogenfenster mit prächtigen Heiligen aus gemaltem Glas... und Nischen voller Siegestrophäen und alter Rüstungen, indische Schilde aus Rhinozeroshaut, Köcher, Langbogen, Pfeile und Speere - alle angeblich von Sir Terry Robsart auf den Kreuzzügen erbeutet...
Amüsiert nahm Walpole das Befremden seiner vielen neugierigen Besucher zur Kenntnis, das sie über seinen so abenteuerlich freien Umgang mit dem, was als guter Geschmack galt, nicht zu verbergen vermochten. Um ästhetische Rechtfertigung befragt, antwortete der Bauherr nur:
"Ich habe nicht die Absicht, ein bescheidenes, aus Laune errichtetes Haus in umständlicher Beweisführung zu verteidigen; es wurde errichtet, um meinem eigenen Geschmack zu behagen und um, in einem gewissen Grade mindestens, meine eigenen Träume zu verwirklichen."
Bei allein behauptetem geschmacklichen Eigensinn berief sich Walpole doch auch auf Vorbilder. Literarisch ist es vor allem Shakespeare, dessen Werk von den dramatischen Figuren und Geistererscheinungen bis in die sprachliche Diktion hinein Spuren in der "Burg von Otranto" hinterlassen hat. Der Roman ist im ganzen wie ein Drama konzipiert; er folgt einem szenischen Ablauf mit vielen Dialogen in fünf Akten, die konzentriert auf die Katastrophe zusteuern. Zwei Jahre nach dem Roman beginnt Walpole dann auch mit der Niederschrift eines Dramas, der Tragödie: "Die geheimnisvolle Mutter".
Die Geschmacksprovakation dieses Stückes liegt diesmal nicht auf der Ebene der Form. Der Literaturwissenschaftler Norbert Miller, der kürzlich eine opulente Studie zu Walpole veröffentlicht hat, schreibt zur "Geheimmisvollen Mutter":
"Regelmäßiger im Aufbau, entschlossener in der Einhaltung der klassischen Einheiten (von Ort, Zeit und Handlung), gleichmäßiger in Sprache und Dialagführung ist kein zweites Drama des 18. Jahrhunderte geschrieben als dieses der Aufhebung jeder moralischen Ordnung."
Die Provokation ist ganz stofflich. Es geht um einen doppelten Inzest.
Eine reale Vorgeschichte hat Walpole selbst im Nachwort zu seiner Tragödie angeführt:
"Ich hatte, fast noch ein Kind, von einer vornehmen Dame gehört, die unter ungewöhnlichen seelischen Qualen den Erzbischof Tillotson aufgesucht und um seinen Rat gebeten hatte. Viele Jahre zuvor hatte ihr eine Zofe in ihren Diensten darüber gestanden, der Sohn der Dame habe sie zu einem heimlichen Stelldichein gedrängt. Die Mutter befahl dem Mädchen, eine Verabredung zu treffen, bei der sie selbst, wie sie sagte, sich ihrem Sohn zu erkennen geben wolle, um ihm für seine strafbare Leidenschaft Vorhaltungen zu machen. Fortgerissen durch eine viel strafbarere Leidenschaft, habe sie jedoch die Verabredung eingehalten, ohne sich zu erkennen zu geben. Die Frucht dieser gräßlichen List war eine Tochter, welche die Dame in aller Heimlichkeit auf dem Lande aufziehen ließ. Nun hatte es sich ergeben, daß sie zu großer Schönheit heranwuchs und durch Zufall ihren Vater und Bruder traf, der niemals den leisesten Verdacht von der Wahrheit bekommen hatte. Er hatte sich in sie verliebt und sie schließlich geheiratet. Die elende, schuldbeladene Mutter war nun, da sie das Geschehene erfuhr und von den Folgen ihres Verbrechens sich zum Wahnsinn getrieben sah, zum Erzbischof geflohen. Er sollte ihr sagen, wie sie sich zu verhalten habe. Der Prälat gebot ihr, das Geschehene niemals ihren Sohn und ihre Tochter erfahren zu lassen, da sie unschuldig und frei jeder verbrecherischen Absicht seien. Für sich selber aber müsse sie beinahe an jeder Gnade verzweifeln."'-
Diese extreme Geschichte - für Walpole schauerlicher als selbst die Geschichte des Ödipus - ist die stoffliche Vorlage für das Drama geworden. Poetologisch reflektiert und durchaus um Verständnis bemüht beschreibt der Autor die Prinzipien seiner Bearbeitung:
"Um von einem so erschreckenden Entwurf Gebrauch zu machen, war es notwendig, das Verbrechen so verständlich wie irgend möglich zu machen und den Charakter der Verbrecherin zu heben. Um den ersteren Zweck zu erreichen, wählte ich den Augenblick, in dem sie ihren geliebten Gatten eben verloren hat, da Schmerz, Enttäuschung und ein Widerstreit der Leidenschaften ihren Verstand vielleicht um seine Wachsamkeit gebracht und sie so der Gefahr ausgesetzt hat, unter der sie fallen sollte. So ungewöhnlich der Augenblick scheinen möchte, um sie zu ihrer Untat zu treiben, läßt er sie doch weniger hassenswert erscheinen, als wenn sie ein so ekelerregendes Verbrechen in kaltem Vorbedacht ausgeführt hätte. So habe ich mich bemüht, ihre Zuneigung zu ihrem Gatten bis zu einen gewissen Grad zur Ursache ihrer Schuld zu machen. Da man die Schuld selbst nicht vermindern durfte, ohne den Gegenstand des Dramas zu zerstören, hielt ich das sofort ausgelöste Entsetzen bei ihr und später ihre Gewissensqual für notwendig, damit sie auf der Bühne überhaupt ertragen werden konnte. Mehr noch: das Publikum mußte zu ihren Gunsten voreingenommen sein, sonst hätte sich ein einhelliges Mißbehagen gegen das ganze Theaterstück erheben müssen. Aus diesem Grund habe ich die Geschichte bis zur letzten Szene unterdrückt und dafür jeden schmückenden Zug von wachem Verstand, nicht frömmelnder Gläubigkeit und wahrer Zerknirschung auf einen Charakter gehäuft, der am Ende allgemeine Empörung gegen sich erwecken mußte. In der Hoffnung, daß ein wenig Mitleid in der Seele der Zuschauer erhalten bliebe, und daß ein langes Leben in Tugend und Bußfertigkeit bis zu einem gewissen Grad einstehen könne für einen Augenblick - freilich einen höchst hassenswerten Augenblick einer verdorbenen Einbildungskraft."
Walpole wußte, daß das Stück wegen seines Stoffes niemals aufgeführt werden würde; daß er es trotzdem schrieb, ist ein Beleg mehr dafür, daß es ihm kaum auf den direkten Erfolg ankam, sondern eher darauf, einen einmal gefaßten Schaffensimpuls nachzugeben und darin seine Liberalität zu behaupten.
"Von dem Zeitpunkt an, da ich mich der vorgehenden
Szenen zuerst annahm, habe ich mir nie geschmeichelt, daß
sie sich für ein Erscheinen auf der Bühne eignen könnten.
Der Gegenstand ist so schrecklich, daß er nach meiner Auffassung
ein Publikum eher verstören mußte als ihm Vergnügen
zu bereiten. Andererseits fand ich den Gegenstand so wahrhaft
tragisch in den beiden entscheidenden Wirkursachen von Schrecken
und Mitleid, daß ich dem Impuls nicht widerstehen konnte,
ihn für die Szene zu überarbeiten."11
Ganz aus dem Geist des den Regeln und Erwartungen der Vernunft beinahe völlig unzugänglichen Spleens hat Walpole 1785 noch ein paar wundersame Erzählungen verfaßt und im Selbstverlag in sechs Exemplaren herausgebracht: er nannte sie "Hieroglyphische Geschichten", und sie wurden, so das Vorwort,
"zweifellos kurz vor der Erschaffung der Welt geschrieben und sind seit jener Zeit durch mündliche Überlieferung in den Bergen von Crampcraggiri erhalten geblieben, was eine unbewohnte Insel ist, die noch auf ihre Entdeckung wartet..."
Es handelt sich um köstliche Unsinnsmärchen und Lügengeschichten, montiert aus privaten Anspielungen, Märchenreferenzen und Erzählerkommentaren, wie für einen vertrauten Kreis von Kindern geschreiben, in denen das Phantastische nun völlig aus dem Logischen, auch dem Psychologischen und Historischen herausgelöst ist - ein freies Spiel der Einbildungskraft beinahe ohne jeden Verstand, ohne satirischen Zweck oder moralische Anwendung - eine Zumutung für das Zeitalter der Vernunft und fast eine Vorwegnahme des "automtischen Schreibens" der Surrealisten. Die Geschichte: "Der König und seine drei Töchter" etwa beginnt folgendermaßen:
"Es gab einmal einen König, der hatte drei
Töchter, das heißt, er hätte drei Töchter
gehabt, wenn er eine mehr gehabt hätte, aber auf irgendeine
nicht näher geklärte Weise war die älteste Tochter
nie richtig geboren worden. Sie war ungemein schön, besaß
einen sprühenden Geist und sprach perfekt Französisch,
wie alle Autoren jener Epoche versichern; und dennoch wollte keiner
von ihnen behaupten, daß sie je gelebt habe. Andererseits
gibt es aber nicht den geringsten Zweifel daran, daß die
beiden anderen Prinzessinnen bei weitem keine Schönheiten
waren. Die zweite sprach Englisch mit einem starken Akzent aus
der Gegend von Yorkshire, während die jüngste schlechte
Zähne hatte und nur ein Bein besaß, aus welchem Grund
sie beim Tanzen sehr ungeschickt war."
Im öffentlichen, politischen Leben durchaus ein einflußreicher, seiner Stellung bewußter Pragmatiker, als (Brief-)Chronist seiner Zeit ein um kritische Objektivität bemühter, aufmerksamer Beobachter, hat Horace Walpole sich literarisch und als Bauherr eine zweite Welt geschaffen, in der die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, des Geschmacks und der Logik aufgehoben waren. Über den - wiederum durchaus privaten - Grund der Notwendigkeit einer solchen zweiten, vor allen nostalgisch gefärbten Traumwelt macht ein Brief eine Andeutung, den Walpole am 5. Januar 1766 an seinen Freund George Montagu schrieb:
"Träume, Du weißt es, waren seit
jeher mein liebster Weidegrund, und weit entfernt, endlich so
alt zu werden, daß mich Ihre Leere langweilt, glaube ich
allmählich fast, daß es keine Weisheit gibt, vergleichbar
dem Grundsatz, das, was gemeinhin die Realitäten des Lebens
nennt, auszutauschen gegen Träume. Alte Kastelle, alte Bilder,
alte Geschichten und das Schwätzen alter Leute lassen einen
nach rückwärts leben, in die Jahrhunderte hinein, die
einen nicht enttäuschen können. Da hält man die
Vergangenheit fest und gewiß in Händen. Die Toten haben
ihre Macht zu betrügen verloren - man kann heute Katharina
von Medici vertrauen."
Nachweise
1) Zit. in: N. Miller, Strawberry Hill, Horace Walpole und die Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit, München/Wien 1986, S. 181 f.
2) Zit. in.- N. Niller, a.a.O., S, 178
3) Zit, in: N. Xiller, a.a.O., S. 22
4) Horace Valpole, Die Burg von Otranto, Frankfurt/X. 1988, S.
160 f.
5) Zit. in: 1. Xiller, a.a.O., S. 221
6) Villiam @tehead In der Zeitschrift "The Vorld" (Närz
1753)t.zit. in: N. Niller, a.a.O., S. 77
7) Zi in: N. Niller, a,a.O., S. 168
8) Horace Val-Pole, "Description", 2. Aufl. 1784-, zit. in: N.
Xiller, S. 169
9) H.V. an Horace Mann am 12. Juni 1753; zit in: N. Niller, ala.0.. S. 109 ff.
10) H.V., Descrigtion 2. Aufl. 1784, Vorrede; zit. in: E.
Niller, a.a.O., . 354
11) N. Miller a a.0 S. 277 f.
12) Horace Walpole's Postskript zum Drama: "The Mysterious Mother"; zit. in: N. Miller, a.a.0.. S. 278
13) Horace Walpole, Nachwort zu "The Mysterious Mother"; zit.
in: N. Miller, a.a.0. S. 289
14) Horace Walpole, Nachwort zu "The Myterious Mother"; zit.
in: N. Niller, a.a.O., S. 294
15) Horace Walpole "Hieroglyphische Geschichten", hrsg. von
Schuldt, Reinbek bei Hamburg 1988. S. 14 f.
16) Horace Walpole, Hieroglyphische Geschichten, S. 33
17) Horace Walpole; Brief v. 5. Januar 1766 an George
Montagu, Correspondence, vol. 10, p.
192; zit. in: N. Miller, a.a.0.-, S. 59.